Überraschend gültig: Entgegen gängiger Annahme gilt die vor 150 Jahren von Lord Kelvin aufgestellte Gleichung zum Dampfdruck nicht nur im makroskopischen Bereich, sondern auch auf molekularer Ebene. Selbst in Kapillaren, die nur wenige Wassermoleküle dick sind, beschreibt die Gleichung die Kondensation von Wasserdampf korrekt, wie nun ein Experiment erstmals belegt. Bisher erwartete man in diesen Größenordnungen ein Versagen der klassischen Physik.
Ob in Sandburgen, in biologischen Geweben oder technischen Anwendungen: Viele fundamentale Eigenschaften solcher Materialien wie ihre Reibung, Haftung, Befeuchtung oder Korrosion werden von einem physikalischen Prozess geprägt – der kapillaren Kondensation. Sie bestimmt, ob und wie stark sich Luftfeuchtigkeit in den Poren, Unebenheiten und Mikrorissen des Materials niederschlägt und dort zu flüssigem Wasser kondensiert.
Den Zusammenhang von Luftfeuchtigkeit, Kondensation von Wasserdampf und Größe der Poren beschreibt die vor rund 150 Jahren vom britischen Physiker Lord Kelvin aufgestellte Dampfdruck-Gleichung. Anhand von Parametern wie der Oberflächenspannung, Dichte des Wassers, der Temperatur, der Gaskonstante und dem Krümmungsradius der Wasseroberfläche in der Kapillare (Meniskus) lässt sich über sie ausrechnen, wie stark der Wasserdampf der Luft kondensiert.
Wie weit gilt die Kelvingleichung?
Allerdings hat die Kelvingleichung ein großes Manko – so dachte man jedenfalls bisher: Sie gilt nur für Kapillaren, in denen man noch den Krümmungsradius des Meniskus bestimmen kann. Dies ist bis zu Kapillaren mit rund zehn Nanometern Durchmesser der Fall. „Aber in der realen Welt hören Poren, Risse und Hohlräume nicht bei mehreren Nanometern Größe auf, sondern können viel kleiner werden“, erklären Qian Yang von der University of Manchester und seine Kollegen. „Gerade dies macht die Kondensation zu einem so alltäglichen Prozess.“
Das Problem jedoch: „Bei noch kleineren Poren erwartet man ein Versagen der Kelvingleichung, weil der Hohlraum sich der Größe einzelner Wassermoleküle annähert“, erklären die Wissenschaftler. Denn wenn eine Kapillare oder Pore nur noch wenige Wassermoleküle dick ist, verändern sich die Eigenschaften des Wassers. Zudem lässt sich keine Krümmung des Meniskus und kein Kontaktwinkel der Grenzfläche am Kapillarenrand mehr bestimmen und damit fehlen der Gleichung Parameter.
Graphenstützen und durchhängende Kristalle
Ob die Kelvingleichung tatsächlich im molekularen Bereich versagt, haben nun Yang und seine Kollegen erstmals in einem Experiment überprüft. Dafür legten sie mehrere Streifen Graphen auf eine kristalline Unterlage und deckten diese Abstandshalter mit einem wenige Atomlagen dicken Schichtsilikat-Kristall ab. Dadurch entstanden zwischen den Graphenstreifen winzige Kanälchen, deren Durchmesser je nach Atomlagenzahl des Graphens von der Dicke nur eines Kohlenstoffatoms bis zu mehreren Nanometern reichte.
Dann folgte der entscheidende Schritt: Im Rasterkraftmikroskop beobachteten die Forscher, wie stark die hauchdünne Deckschicht über den Kanälchen einsank – und wie sich dies in Abhängigkeit von der Luftfeuchte und Dicke der Kanälchen änderte. Denn die Deckschicht gibt dann der Schwerkraft nach, wenn der Kanal unter ihr leer ist. Kondensiert aber Wasser darin, stützt diese Wasserfüllung die Deckschicht: „Als das Wasser in den Kanälen kondensierte, nahm der Durchhang abrupt ab“, berichten die Wissenschaftler.
Über diese Messungen konnten Yang und seine Kollegen ermitteln, unter welchen Bedingungen die Kondensation in ihren Kapillaren stattfindet – und damit auch, ob diese Werte denen der Kelvingleichung entsprechen.
Und sie gilt doch!
Das erstaunliche Ergebnis: Die Beobachtungen entsprachen ziemlich genau dem, was man auf Basis der Kelvingleichung erwarten würde – obwohl die Kondensation hier auf der kleinsten, molekularen Ebene stattfand. „Das war eine große Überraschung. Ich hatte einen kompletten Zusammenbruch der konventionellen Physik erwartet“, sagt Yang. „Aber die alte Gleichung funktionierte gut.“
Erstmals haben die Forscher damit experimentell bewiesen, dass die Kelvingleichung tatsächlich auch im kleinsten Maßstab ihre Gültigkeit behält. „Die ganzen Kondensations-Effekte und damit verknüpften Eigenschaften sind jetzt durch harte Belege gestützt statt nur durch bloße Annahmen nach dem Motto: ‚Es scheint zu passen, also nutzen wir einfach auch dafür diese Gleichung'“, erklärt Yang.
Selbst Lord Kelvin wäre überrascht
Obwohl Lord Kelvin vor 150 Jahren noch keine Möglichkeit hatte, bis ins Reich der Atome hineinzusehen, hat er in seiner Gleichung selbst diese Bereich abgedeckt. „Gute Theorie gilt oft auch jenseits ihrer Anwendungsgrenzen“, erklärt Seniorautor Andre Geim von der University of Manchester. „Allerdings wäre wohl selbst Lord Kelvin überrascht, dass seine Theorie selbst im atomaren Maßstab gilt. Denn er selbst hielt dies für unmöglich.“
Damit haben die Wissenschaftler Lord Kelvin gleichzeitig bestätigt und widerlegt: Seine Gleichung gilt selbst in einem Bereich, von dem Kelvin selbst dies nicht erwartet hatte. (Nature, 2020; doi: 10.1038/s41586-020-2978-1)
Quelle: University of Manchester