Raffinierte Strategie: Bisher kannte man nur vier Fortbewegungsarten bei Schlangen, jetzt haben Forscher eine fünfte entdeckt. Dank ihr kann die in Ozeanien heimische Braune Nachtbaumnatter selbst dicke, glatte Stämme und Pfeiler erklimmen. Dafür bildet sie mit ihrem Körper eine Lasso-ähnliche Schlinge und schiebt diese durch kleine Bewegungen langsam immer höher. Sie kommt damit Stämme hoch, die für andere Baumschlangen unerklimmbar sind.
Schlangen sind ein echtes Erfolgsmodell der Evolution. Obwohl diese Reptilien durch eine Mutation schon vor Millionen Jahren ihre Beine verloren, sind sie weltweit in nahezu allen Lebensräumen verbreitet – von der heißesten Wüste bis in den Ozean. Sie können sich auf rutschigem Sand fortbewegen, aber auch schwimmen, Bäume erklimmen und sogar „fliegen„.
Bisher waren vier Bewegungsarten von Schlangen bekannt: das gerade Kriechen, das klassische Schlängeln, das „Seitenwinden“ der Wüstenschlangen und die Ziehharmonika-Bewegung. Letztere nutzen Schlangen, um auf glatten Untergründen voranzukommen oder um dünne Baumstämme zu erklimmen. Dabei stützten sie sich mit dem hinteren Körperteil ab und schieben der Vorderende voran, dann halten sie sich vorne fest und ziehen den Rest nach.
Nachtbaumnatter durch Zufall ertappt
Doch es gibt noch eine fünfte Bewegungsart, wie nun Julie Savidge von der Colorado State University und ihre Kollegen durch Zufall entdeckt haben. Sie hatten auf Guam untersucht, wie sich heimische Vögel besser vor der invasiven Braunen Nachtbaumnatter (Boiga irregularis) schützen lassen, einer Baumschlange, die anders als andere Arten selbst dicke, glatte Stämme erklimmen kann.
„Diese Nachtbaumnattern sind wirklich gut darin, überall hinzukommen“, sagt Koautor Bruce Jane von der University of Cincinnati. „Sie können senkrecht in die Höhe klettern und dabei winzige Unebenheiten ausnutzen und große Lücken im Kronendach überbrücken.“ Bei der Videoüberwachung einer möglichen Schutzmaßnahme beobachteten die Forscher durch Zufall, wie die Schlange einen glatten Pfosten hinaufkletterte.
Klettern mit der Lasso-Technik
Dabei zeigte die Nachtbaumnatter eine einzigartige, nie zuvor bei einer Schlange beobachtete Bewegungsart: „Plötzlich sahen wir, wie diese Schlange eine Art Lasso um den zylinderförmigen Pfeiler bildete und ihren Körper damit in die Höhe bewegte“, berichtet Savidges Kollege Tom Seibert. „Das war ein echter Schocker. So etwas hatten wir noch nie gesehen.“
Bei ihrem Lasso-Klettern formt die Nachtbaumnatter zunächst mit ihrem hinteren Körper eine Schlinge um den Pfeiler. Kopf und Vorderköper sind nach oben gereckt. Dann schiebt sie sich durch kleine Wellenbewegungen der „Lassoschlinge“ langsam Zentimeter für Zentimeter nach oben. „Diese Biegungen bilden den Antriebsmechanismus, indem sie einen Teil des Körpers aufwärtsbewegen, während sie gleichzeitig den Griff des Lassos verlagern“, erklären die Forscher.
Fünfte Fortbewegungsart der Schlangen
Damit zeigt diese Baumschlange eine ganz neue Art der Fortbewegung. „Seit nahezu hundert Jahren kennt man nur vier Hauptarten der Fortbewegung bei Schlangen, jetzt haben wir eine fünfte entdeckt“, sagt Savidge. Während die sonst von Schlangen beim Klettern genutzte Ziehharmonikabewegung nur bei dünneren Stämmen oder Pfosten funktioniert, erlaubt diese Technik, selbst glatte, doppelt so dicke Stämme oder Metallpfeiler hinaufzugelangen.
Allerdings ist diese Technik des Lasso-Kletterns weder sonderlich schnell noch einfach: „Diese Klettermethode bringt die Schlange an die Grenzen ihrer Kraft“, erklärt Jayne. „Sie muss immer wieder längere Zeit Pause machen, um sich auszuruhen.“ Die Biologen beobachteten zudem, dass die Nachtbaumnatter zwischendurch immer wieder abrutschte und ein Stück nach unten sackte. Dennoch schaffte es die Schlange, selbst einen bislang als schlangensicher geltenden Pfeiler auf diese Weise zu erklimmen.
Hilfe zum besseren Schutz von Vögeln
Nach Ansicht der Wissenschaftler könnte diese neue Klettertechnik erklären, warum sich die Braune Nachtbaumnatter so erfolgreich in Ozeanien ausbreiten konnte. Nachdem sie in den 1940er und 1950er Jahren nach Guam eingeschleppt wurde, ist sie nun eine der größten Bedrohungen für die dort heimische Vogelwelt geworden. Einer der Gründe dafür ist ihre Fähigkeit, selbst die Nistplätze zu erreichen, die für andere Baumschlangen unzugänglich sind.
Die Forscher hoffen nun, aufgrund der neuen Erkenntnisse Schutzmaßnahmen entwickeln zu können, die selbst die Braunen Nachtbaumnattern mit ihrer Lasso-Technik nicht überwinden können. Gleichzeitig wollen sie aber nun auch andere Baumschlangen daraufhin testen, ob sie möglicherweise diese und andere Klettertechniken beherrschen. (Current Biology, 2021; doi: 10.1016/j.cub.2020.11.050)
Quelle: Cell Press, Colorado State University