Mysteriöses „Cold Case“: Vor 62 Jahren starben fast alle Teilnehmer einer Ski-Expedition im Uralgebirge eines rätselhaften Todes – bis heute sind ihre Todesumstände nicht geklärt. Denn klare Hinweise auf eine Lawine oder eine andere Unglücksursache fehlten. Doch jetzt könnten Forscher eine Erklärung für die widersprüchlichen Indizien gefunden haben. Demnach führte eine Verkettung von natürlichen und menschengemachten Umständen zum Tod der neun Menschen.
Um diese Tragödie ranken sich bis heute unzählige Mythen und Theorien – von mörderischen Yetis bis hin zu militärischen Geheimexperimenten. Seinen Anfang nahm das Geschehen am 27. Januar 1959, als eine zehnköpfige Gruppe auf Skiern zu einer 14-tägigen Expedition zum Berg Gora Otorten im nördlichen Ural aufbrach. Angesichts von Temperaturen von minus 30 Grad kehrte einer der Teilnehmer schon am nächsten Tag wieder um, die anderen neun gingen jedoch weiter – und kehrten nie wieder zurück.
Erst rund einen Monat später fand eine Suchexpedition das schwer beschädigte Zelt und Teile der Ausrüstung am Hang des Cholat Sjachl – dem „Berg des Todes“. Wenig später wurden auch die Leichen der neun Vermissten geborgen – einige waren bis auf die Unterwäsche entkleidet, andere wiesen Knochenbrüche und schwere Brust- und Schädelverletzungen auf.
„Massive Naturgewalt“
Doch warum sind diese neun Menschen gestorben? Und wie? Bis heute sind diese Fragen ungeklärt. Die sowjetischen Behörden kamen damals nur zu dem Schluss, dass eine „massive Naturgewalt“ zum Tod der Expeditionsteilnehmer geführt haben müsse. Sie stellten nach drei Monaten ihre Ermittlungen zum Unglück am Djatlow-Pass ohne eindeutiges Ergebnis ein.
Im Jahr 2019 jedoch nahm die russische Generalstaatsanwaltschaft auf Bitte der Hinterbliebenen die Ermittlungen zum Fall wieder auf. Wenig später klingelte bei Johan Gaume von der Polytechnischen Hochschule Lausanne (EPFL) das Telefon: Eine Journalistin der New York Times bat den Geo-Ingenieur und Lawinenfachmann um seine fachliche Meinung zu den möglichen Ursachen des Unglücks. Gemeinsam mit seinem Kollegen Alexander Puzrin vom der ETH Zürich ging Gaume dem Fall nach.
Widersprüchliche Befunde
Als eine der möglichen Ursachen galt schon zu Sowjetzeiten eine Lawine. Allerdings gibt es einige dem widersprechende Befunde. So fand der Suchtrupp weder eindeutige Spuren einer Lawine noch deren Ablagerung. Mit nur rund 23 Grad Neigung war der Hang oberhalb des Lagers zudem eigentlich zu flach für eine Lawine. Und auch die an einigen Leichen gefundenen Brust- und Schädelverletzungen sind für ein solches Ereignis untypisch.
Ebenfalls merkwürdig ist der Zeitpunkt des Unglücks: Aus den Überresten des Lager und dem unzureichenden Bekleidungszustand einiger Toter schließen die Experten, dass eine Lawine – wenn sie dann stattfand – frühestens neun Stunden nach dem Aufbau des Zeltlagers abgegangen sein kann. „Die früheren Ermittlungen konnten nicht erklären, wie mitten in der Nacht eine Lawine ausgelöst werden kann, wenn es am Abend davor nicht geschneit hat“, sagt Gaume.
Eine Grube im Schnee und fatale Fallwinde
Was damals wirklich geschah, haben nun Gaume und Puzrin noch einmal mithilfe verschiedener Modelle untersucht. Aufgrund der Funde am Unglücksort gehen sie davon aus, dass die Expeditionsteilnehmer eine Grube in die Schneedecke des Berghangs gruben, um ihr Zelt besser gegen den Wind zu schützen. „Hätten sie den Hang nicht angeschnitten, wäre nichts passiert“, sagt Puzrin. „Das war der Initialauslöser, hätte allein aber nicht ausgereicht.“
Doch dazu kam ein weiterer Auslöser: ein katabatischer Wind. Diese starken Fallwinde entstehen, wenn über Schnee oder Eisflächen abgekühlte Luft der Schwerkraft folgt und hangabwärts weht. „Wahrscheinlich verfrachteten die katabatischen Winde den Schnee, der sich langsam aufhäufte“, sagt Puzrin. Dadurch sammelte sich, von der schlafenden Gruppe unbemerkt, oberhalb des Zeltes eine dicke, schwere Schneemasse an.
Einige Stunden später gab dann die Schneedecke unter dieser Last nach: „Irgendwann bildete sich dann möglicherweise ein Riss und breitete sich aus“, erläutern die Forscher.
Zeitverzögerter Schneebrett-Abgang
Die Folge: Oberhalb des Lagers löste sich ein Schneebrett. Anders als bei einer Staublawine bleibt bei diesem Lawinentyp der obere Teil der Schneedecke nahezu intakt und rutscht als Ganzes auf einer darunterliegenden Schwächezone zu Tal – wie ein Brett aus Schnee und Eis. Diese Art der Fließlawinen entfaltet eine besondere Wucht und kann selbst an flacheren Hängen abgehen, wie man inzwischen weiß.
Beim Unglück am Djatlow-Pass könnte den Modellen zufolge die Kombination aus der windbedingt erhöhten Schneelast und dem Anschneiden der Schneedecke durch die ausgehobene Grube für das Auslösen einer solchen Schneebrettlawine ausgereicht haben. Weil der Schnee dabei als Ganzes abrutschte, war dieser Lawinenabgang für die einen Monat später eintreffende Suchexpedition nicht mehr zu sehen.
Auch die Knochenbrüche und Verletzungen der Toten wären durch eine solche Lawine erklärbar: „Anhand von Computersimulationen zeigen wir, dass eine Schneebrettlawine ähnliche Verletzungen wie die hervorrufen kann, die an einigen der Toten gefunden wurden“, berichtet Gaume.
Einige Rätsel bleiben
Ob sich das Unglück damals tatsächlich so abgespielt hat, können auch die beiden Forscher nicht mit Sicherheit sagen. Denn einige Funde am Unglücksort und auch die Position einiger Leichen sind mit selbst mit einer Schneebrettlawine schwer zu erklären. „Tatsache ist, dass niemand wirklich weiß, was in dieser Nacht geschah“, sagt Puzrin. „Das Unglück vom Djatlow-Pass wird in einigen Aspekten wohl für immer ein Rätsel bleiben.“ (Communications Earth and Environment, 2021; doi: 10.1038/s43247-020-00081-8)
Quelle: Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne