Extremform der Selbstverstümmelung: Forscher haben erstmals eine Tierart entdeckt, die ihren gesamten Körper regenerieren kann. Die Meeresschnecke trennt dafür spontan den Körper samt der Organe hinter ihrem Kopf ab. Während der Kopf weiterlebt und innerhalb von 20 Tagen einen neuen Körper nachwachsen lässt, stirbt der Körperrest ab. Wozu diese Extremform der Selbst-Verstümmelung dient, ist bislang unklar.
Von Eidechsen, Salamandern, dem Axolotl, Süßwasserpolypen und auch einigen Gliederfüßern kennt man das: Wenn ihnen ein Bein oder der Schwanz abgetrennt wird, können diese Tiere das fehlende Körperteil ersetzen. Spezielle Stammzellen an den „Sollbruchstellen“ sorgen dafür, dass das Gewebe nachwächst. Einig dieser Tierarten trennen diese Glieder sogar absichtlich ab, um beispielsweise ihre Flucht vor einem Fressfeind zu erleichtern.
Meeresschnecke trennt ihren Kopf ab
Doch es geht noch extremer: Zwei japanische Biologinnen haben ein Tier entdeckt, das seinen gesamten Körper mitsamt inneren Organen abtrennen und ersetzen kann. Es handelt sich um die Art Elysia marginata, eine in warmen Meeren verbreitete Nacktschnecke. Durch Zufall beobachteten Sayaka Mitoh und Yoichi Yusa von der Nara Frauenuniversität bei dieser Meeresschnecke Erstaunliches:
Eine der jungen Schnecken begann plötzlich, ihren gesamten Körper abzutrennen. Während dieser liegen blieb, wanderte der Kopfteil auf dem Rest des Fußes weiter durch das Aquarium. „Wir waren überrascht, den Kopf direkt nach der Autotomie in Bewegung zu sehen“, sagt Mitoh. „Wir dachten, dass er ohne Herz und andere wichtige Organe bald sterben müsste. Umso größer unser Erstaunen, dass der Kopf den gesamten Körper regenerierte.“
Neuer Körper wächst nach
Und diese Schnecke war kein Einzelfall: Von den 15 im Labor gehaltenen Meereschnecken trennten fünf im Verlauf ihres Lebens ihren Körper ab. „Ein Individuum vollführte diese Autotomie sogar zweimal“, berichten die Wissenschaftlerinnen. „In allen Fällen wurde die gesamte Herzregion komplett mit abgetrennt und auch Nieren, Darm und die meisten Fortpflanzungsorgane bleiben im Körper zurück.“
Obwohl dem verbleibenden Kopf damit eigentlich alle lebensnotwendigen Organe fehlen, lebte dieser weiter. Schon einen Tag nach der Selbst-Enthauptung war die Nahtstelle am Hals zugewachsen und der Kopf begann wieder zu fressen. Nach sieben Tagen begann sich in dem langsam nach hinten herauswachsenden Ersatzkörper ein neues Herz zu bilden, nach 20 Tagen war der neue Körper wieder komplett.
Diese Regeneration scheint aber nur bis zu einem gewissen Alter möglich zu sein: Während jüngere, bis zu 250 Tage alte Schnecken offenbar problemlos einen neuen Körper produzieren können, gelang dies doppelt so alten Exemplaren nicht mehr, wie Mitoh und Yusa beobachteten. Die Köper der Meeresschnecken erholten sich dagegen grundsätzlich nicht von der Abtrennung: Ihre Farbe verblasste, sie schrumpften und starben nach einigen Tagen, manchmal auch erst nach Wochen ab.
Intrazelluläre Überlebens-Helfer
Die radikale Selbstverstümmelung weckt die Frage, wie der Schneckenkopf ohne Körper und innere Organe überleben kann. Eine mögliche Antwort könnte eine weitere ungewöhnliche Fähigkeit der Elysia-Schnecken sein: Ihre bis in den Kopf reichende Verdauungsdrüse kann Chloroplasten aus verzehrten Algen in ihre Zellen aufnehmen. Dort produzieren diese sogenannten Kleptoplasten mittels Photosynthese Nährstoffe.
„Diese Meeresschnecken können daher Energie für ihr Überleben und ihre Regeneration aus der Photosynthese dieser Kleptoplasten gewinnen – selbst wenn sie kein Futter mehr verdauen können“, erklären die Forscherinnen. Der abgetrennte Schneckenkopf könnte so bis zum Nachwachsen des Körpers überleben.
Abwehr-Maßnahme gegen Parasiten?
Aber warum werfen die Schnecken überhaupt ihren Körper ab? Bislang ist dies rätselhaft. Anders als bei Salamandern oder Eidechsen scheint die Flucht vor einem Fressfeind nicht der Beweggrund zu sein. Denn als die Forscherinnen einen solchen Angriff simulierten, indem sie die Schnecke kniffen oder ihr sogar ein kleines Stück des Kriechfußes abtrennten, blieb die Selbstverstümmelung aus.
Zudem dauert die Abtrennung des Kopfes mehrere Stunden. „Um dem Gefressenwerden zu entgehen, wäre dies daher nicht sehr effektiv“, so Mitoh und Yusa. Sie vermuten, dass die radikale Trennung vom Körper sich eher gegen innere Feinde richtet: gegen Parasiten. Wie sie feststellten, waren viele der Elysia-Schnecken, die diese Abtrennung durchführten, von einem parasitischen Ruderfußkrebs befallen.
„Diese Parasiten besiedeln den Hauptteil des Körpers und behindern seine Reproduktion“, erklären die Biologinnen. „Die Beseitigung dieser Parasiten durch die Autotomie könnte dazu dienen, die Fortpflanzung der Schnecken wieder in Gang zu bringen.“ Allerdings ist dies im Moment wenig mehr als eine Hypothese. (Current Biology, 2021; doi: 10.1016/j.cub.2021.01.014)
Quelle: Cell Press