Bei dem Atomunglück von Fukushima Daiichi wurden nach Schätzungen der japanischen Atom-Aufsichtsbehörde NISA allein im März 2011 rund 770 Billarden Becquerel (Petabecquerel) an Radioaktivität freigesetzt, das entspricht rund 15 Prozent der Menge beim Atomunglück von Tschernobyl. Andere Studien kommen zu dem Schluss, dass insgesamt zwischen zehn und 100 Petabecquerel in die Umwelt gelangt sind.
Damit ist der Atomunfall von Fukushima nach Tschernobyl der zweite Atomunfall, der die höchste Stufe 7 der internationalen Skala für nukleare Unfälle (INES) erreicht. Sie kommt dann zum Tragen, wenn es zu einer Freisetzung von radioaktiven Stoffen mit mehr als 50.000 Billionen Becquerel kommt.
Ausmaß der Freisetzung unklar
Das Problem jedoch: Weil 23 der 24 Strahlenmessstationen rund um das Atomkraftwerk durch Erdbeben und Tsunami zerstört wurden, gibt es keine verlässlichen Messwerte zur radioaktiven Freisetzung der ersten Tage. Wie viele und welche radioaktive Zerfallsprodukte aus den Reaktoren entwichen sind, ist daher bis heute ungewiss.
Klar scheint aber, dass der größte Teil der Kontamination durch die radioaktiven Nuklide Iod-131 und Cäsium-137 erfolgte. Iod-131 ist relativ kurzlebig und hat eine Halbwertszeit von acht Tagen, Cäsium-137 benötigt dagegen 30 Jahre für den Zerfall und setzt dabei vor allem Gammastrahlung frei. Ein Großteil dieser Radionuklide entwich bei den Wasserstoffexplosionen der drei Reaktorblöcke, aber auch danach gelangte noch radioaktives Material in die Umwelt.
Radioaktiver Glasregen bis nach Tokio
2016 enthüllte eine Studie, dass ein Teil des radioaktiven Cäsiums aus Fukushima nicht in wasserlöslicher, leicht wegwaschbarer Form freiwurde, sondern als Regen aus winzigen radioaktiven Glaspartikeln. Dieses Glas entstand, als der Beton der Reaktorinnenwände durch die enorme Hitze der Kernschmelze schmolz. Bei den Explosionen zerspritzte diese Glasschmelze zu Tröpfchen, die die hochradioaktigen Nuklide in der Reaktorluft umschlossen und dann nach dem Herausschleudern aus dem Reaktor erstarrten.
Damit sind diese Glaspartikel eine Art Zeitkapsel für die radioaktiven Stoffe, die zum Zeitpunkt der Explosionen in der Luft der Reaktoren vorhanden waren. 2018 stellte ein Forscherteam bei der näheren Analyse einiger dieser Glaskörnchen aus dem Umfeld von Fukushima Daiichi fest, dass sie entgegen früheren Annahmen nicht nur leichtere Radionuklide wie Cäsium, Xenon, Lithium, Schwefel und Strontium enthalten, sondern auch Uran.
Auch Uran im Fallout
„Wir haben auch Nanofragmente von zwei verschiedenen Uranverbindungen in diesen Mikropartikeln nachgewiesen“, berichten Asumi Ochiai von der Universität Kyushu und seine Kollegen. Dabei handelt es sich um Urandioxid und eine Mischung aus Uran- und Zirkoniumoxiden. Beide haben Halbwertszeiten von mehreren Milliarden Jahren.
Die Präsenz dieser Radionuklide in den Glaskörnchen legt nahe, dass bei den Explosionen in den Reaktorblöcken neben Zerfallsproduktion auch Teile der Brennstäbe ausgeschleudert wurden. „Die Partikel sind eine Mischung aus geschmolzenem Kernbrennstoff und Reaktormaterialien. Sie spiegeln die komplexen thermischen Prozesse wider, die sich im Atomreaktor während der Kernschmelze ereignet haben“, erklären die Forscher.
„Das verändert einige unserer Annahmen über den Fallout von Fukushima“, sagt Ochiais Kollege Satoshi Utsonomiya. Denn in diesen Glaspartikeln sind die radioaktive Nuklide stark angereichert und die radioaktive Belastung ist entsprechend hoch. Einige dieser Körnchen sind zudem klein genug, um aufgewirbelt und eingeatmet zu werden. Gleichzeitig trägt die Glasumhüllung dazu bei, kurzlebigere Radionuklide wie Cäsium zu konservieren. Sie könnten dadurch in Böden, aber auch in Organismen und in der Nahrungskette länger erhalten bleiben.
Meeressand als Schwamm
Ebenfalls länger erhalten bleibt offenbar ein Teil des radioaktiven Fallouts, der zunächst auf das Meer hinausgeweht wurde. Denn dort reicherten sich die radioaktiven Partikel an Sandkörnern an, sanken ab und sammelten sich im Sediment. Dadurch sind der Meeresgrund und das darunter fließende Grundwasser selbst mehr als 100 Kilometer von Fukushima entfernt radioaktiv kontaminiert, wie ein Forschungsteam im Jahr 2017 feststellte.
„Niemand hätte erwartet, dass die höchsten Cäsium-Konzentrationen heute nicht im Hafen des Atomkraftwerks gemessen werden können, sondern in kilometerweit entferntem Grundwasser unterm Sandstrand“, sagt Virginie Sanial von der Woods Hole Oceanographic Institution. Der Sand habe 2011 wie ein Schwamm gewirkt, der das radioaktive Material jetzt nur langsam freigebe.
Was aber bedeutet dies konkret für Mensch und Natur rund um Fukushima?