Blick unter die Kruste: Ein neues Referenzmodell liefert den bislang genauesten Blick auf die Beschaffenheit und Dicke der Lithosphäre – der festen Schicht aus Erdkruste und Teilen des oberen Erdmantels. Das auf terrestrischen und Satellitendaten basierende 3D-Modell zeigt unter anderem, wo die tiefsten und kälteten Kontinentwurzeln liegen. Es deckt zudem auf, warum die Lithosphäre unter dem Pazifik heißer und dünner ist als bei den anderen Weltmeeren.
Die Oberfläche unseres Planeten ist in ständiger Bewegung: Die Kontinente bewegen sich aufeinander zu oder driften auseinander, an den mittelozeanischen Rücken entsteht neue Ozeankruste, die an den Subduktionszonen wieder in die Tiefe gedrückt und aufgeschmolzen wird. Die Erdplatten, die dabei wie ein Puzzle die sichtbare Oberfläche prägen, bestehen jedoch nicht nur aus Erdkruste, sondern auch aus einem Teil des oberen Erdmantels – gemeinsam bilden sie die Lithosphäre.
Doch wo die Lithosphäre endet und in den zähflüssigen Teil des Mantels übergeht, ist bislang strittig: „Es keine allgemeine Übereinkunft darin, wo die untere Grenze der Lithosphäre global gesehen liegt“, erklären Javier Fullea von der Complutense Universität Madrid und seine Kollegen. Denn je nach Methode – beispielsweise seismische Laufzeiten, Leitfähigkeit oder Dichte – ergeben sich verschiedene Definitionen für diese Untergrenze.
Neues Referenzmodell kombiniert irdische und Satellitendaten
Jetzt haben Fullea und sein Team im Rahmen eines Projekts der Europäischen Weltraumagentur ESA ein Modell entwickelt, das erstmals alle gängigen Parameter kombiniert, um die Lithosphäre und ihre Struktur einheitlich und übergreifend zu beschreiben. Für das neue Referenzmodell WINTERC-G werteten sie mehr als 1,7 Millionen seismische Daten, eine globale Datenbank des Wärmeflusses sowie topografische Daten aus.
Diese „irdischen“ Werte ergänzten die Forschenden mit gravimetrischen Daten des ESA-Satelliten GOCE. Dieser Satellit hat das Schwerefeld der Erde vier Jahre lang aus 255 Kilometer in hoher Auflösung vermessen. Weil das Schwerefeld von der Massenverteilung der verschiedenen Erdschichten beeinflusst wird, liefern diese Daten auch wertvolle Einblicke in die Dicke und Beschaffenheit der Lithosphäre. Zum ersten Mal haben wir so ein neues Modell entwickelt, das multiple irdische Messdaten auf globaler Ebene mit den Satellitendaten von GOCE vereint“, sagt Fullea.
Wie tief reichen die Kontinentwurzeln?
Das neue Referenzmodell zeigt unter anderem die regionalen Unterschiede in den Kratonen – den lithosphärischen Wurzeln der Kontinente. Bei ihnen lassen sich nach ihrer Dicke und Temperatur vier Gruppen unterscheiden, wie die Forschenden berichten. Die dickste und kälteste Lithosphäre liegt demnach unter Nordamerika, dem Baltikum und Westaustralien. Dort reicht die Lithosphäre im Schnitt bis in gut 260 Kilometer Tiefe und ist dort 60 bis 120 Grad kälter als der sie umgebende Mantel.
Deutlich dünner ist die Lithosphäre mit 120 bis 180 Kilometern unter Indien, der Ostantarktis und dem Osten Südamerikas. An dünnsten ausgeprägt sind die Kontinentwurzeln mit weniger als 100 Kilometer Tiefe unter China und Korea, Tanzania und Teilen Sibiriens. In diesen beiden Gruppen sind die unteren Bereiche der Lithosphäre deutlich wärmer und setzen sich weniger stark vom Rest des oberen Erdmantels ab.
Pazifik-Lithosphäre ist am dünnsten und heißesten
Das Modell enthüllt auch erstmals, wie sich die ozeanischen Lithosphären unterscheiden: „In den Ozeanen nimmt die Dicke der Lithosphäre mit dem Alter zu – von Werten um 60 bis 70 Kilometer an den mittelozeanischen Rücken bis zu 100 bis 130 Kilometern in den ältesten Teilen“, erklären Fullea und sein Team. Zusätzlich aber variieren Temperatur, Dicke und Zusammensetzung auch zwischen Rücken, die schnell neue Kruste bilden und den eher langsamen, kälteren Rücken.
„Entlang der mittelozeanischen Rücken gibt es unserem Modell zufolge eine globale Korrelation zwischen Spreizungsrate und Mantelstruktur“, so die Wissenschaftler. So ist die Lithosphäre unter dem Atlantik und Indischen Ozean mit ihren eher langsamen mittelozeanischen Rücken im Schnitt älter und kälter als im Pazifik. Zudem hat die pazifische Lithosphäre auch eine geringere Dichte als der Untergrund der anderen Weltmeere.
Neuer Blick ins Erdinnere
Schon mit diesen ersten Ergebnissen trägt das neue Referenzmodell dazu bei, die Struktur unseres Planeten besser zu verstehen. „Mit der Kombination von Satelliten-, Erdbeben- und Gesteinsdaten können wir gewissermaßen mit einer Lupe auf das bekannte Schalenmodell des Erdinneren schauen und die einzelnen Schichten viel genauer als bisher differenzieren“, erklärt Koautor Nils Holzrichter von der Universität Kiel. Weitere Erkenntnisse werden daher folgen. (Journal of Geophysical Research: Solid Earth, 2021; doi: 10.1029/2020JB020484)
Quelle: European Space Agency ESA