Schauplatz des Geschehens ist ein unwirtliches, 2.000 Meter hoch liegendes Eisfeld im Norden Grönlands – einer der unwirtlichsten Gegenden der Erde. Hier, rund 240 Kilometer von der Küste und ihrem milderen Klima entfernt, herrschen lebensfeindliche Bedingungen: Die Temperaturen sinken nachts auf bis zu minus 56 Grad und auch tagsüber steigt das Thermometer selten über minus 20 Grad. Der eisige Wind rast mit bis zu 110 Kilometer pro Stunde über die endlos weiten Eisflächen.
Eine Stadt für 200 Menschen
Spuren menschlicher Gegenwart oder gar Besiedlung gibt es hier nicht – so scheint es zumindest. Doch das täuscht: Tief unter der Eisoberfläche verborgen liegen die Überreste einer ganzen Stadt -Camp Century. In den 26 Tunneln und Kavernen dieser subglazialen Anlage lebten und arbeiteten Anfang der 1960er Jahre bis zu 200 Menschen, größtenteils Soldaten der US-Armee und Ingenieure.
„Die Geschichte von Camp Century ist fantastisch. Selbst heute erfordert es einige Fantasie, sich vorzustellen, wie eine Gruppe von Armee-Ingenieuren sich ihren Weg in das grönländische Eisschild grub und pflügte, um dort eine von Atomkraft angetriebene Stadt unter dem Eis zu errichten“, schreibt Kristian Nielsen von der University Aarhus in einer Studie zu Camp Century.
Der Bau von Camp Century begann im Jahr 1959, als die US-Armee in Grönland nach einem Standort für einen subglazialen Stützpunkt suchte. Rund 240 Kilometer östlich der US-Militärbasis Thule wurden die Armee-Ingenieure fündig: „Wir brauchten eine flache Oberfläche mit weniger als einem Grad Neigung, denn das ermöglicht es uns, alle Tunnel auf gleichem Niveau zu halten“, erklärt Colonol John Kerkering in dem 1961 von der US-Armee produzierten Film. „Schließlich wählten wir dieses Plateau – eine glatte, weiße Eisebene, so weit man sehen kann.“
Schneefräsen und Tunnel
Ein weiterer, wichtiger Vorteil des Standorts: „Dies war der unserer Versorgungsbasis Thule am nächsten liegende Ort, der nicht von der sommerlichen Eisschmelze betroffen war“, so Kerkering. Doch die monatelangen Bauarbeiten in dieser entlegenen Einöde erforderten einen enormen logistischen Aufwand. Alle Baumaterialien und Werkzeuge mussten per Raupenfahrzeug von der 240 Kilometer entfernten Thule Air Base herangeschafft werden. Eine solche Fahrt dauerte 70 Stunden.
Um die Stadt unter dem Eis zu bauen, schaffte die US-Armee spezielle, in der Schweiz konstruierte Eisfräsen heran. Sie gruben sich von der Eisoberfläche aus schräg in die Tiefe, um dann rund acht Meter unterhalb der Eisoberfläche die waagerechten Tunnel der Anlage aus dem Eis zu fräsen. Die zunächst nach oben hin offenen Tunnel wurden mit gebogenen Stahlplatten abgedeckt und wieder mit Schnee und Eis überhäuft. Zur Belüftung der Stadt unter dem Eis wurden zahlreiche Löcher zur Oberfläche gebohrt, ebenso eine Reihe von Notausstiegen.
Der heroische Kampf der Armee-Ingenieure gegen die Elemente stand auch im Propagandafilm des US-Militärs über Camp Century im Vordergrund. „In dieser entlegenen Umgebung, 1.200 Kilometer vom Nordpol entfernt, ist Camp Century ein Symbol des unaufhörlichen Kampfes des Menschen, seine Umwelt zu erobern“, heißt es im Film. Das Unterfangen diene dazu, die Fähigkeit des Menschen zu verbessern, selbst unter polaren Bedingungen zu leben und zu kämpfen. Gleichzeitig galt die Anlage als Beleg für die überlegenen technologischen Fähigkeiten der USA.
Der erste mobile Atomreaktor
Ein Beispiel dafür war die hochgradig experimentelle Technik, die Camp Century seine Energie lieferte: der weltweit erste mobile Atomreaktor PM-2A. Die mit Uran-235 als Kernbrennstoff betriebene Anlage wurde im Auftrag der US-Armee von der American Locomotive Company entwickelt und so konzipiert, dass sie in Einzelteile zerlegt und am gewünschten Ort wieder zusammengebaut werden konnte.
Jedes Einzelmodul des mobilen Reaktors wog mehr als 350 Tonnen und wurde in einer Karawane von Raupenfahrzeugen über das Eis von Thule nach Camp Century transportiert. Dort montierten Ingenieure die Reaktoren in einem der Tunnel zusammen und im Oktober 1960 nahm das Atomkraftwerk von Camp Century seinen Betrieb auf. Es produzierte zwei Megawatt Strom sowie Wärme für Warmwasser und Heizung.