Verräterischer Schweif: Astronomen haben erstmals eine genauere Karte der äußeren Regionen unserer Galaxie erstellt – des Milchstraßen-Halo. Seine Sternverteilung enthüllt eine langestreckte Turbulenz, die durch die nahe Passage der Großen Magellanschen Wolke entstanden ist. Sie verrät unter anderem die genaue Bahn der Zwerggalaxie, erlaubt aber auch Rückschlüsse auf die Natur der Dunklen Materie im Halo, wie das Team im Fachmagazin „Nature Astronomy“ berichtet.
Die Sternenscheibe der Milchstraße und anderer Galaxien ist von einem Halo umgeben – einer ausdehnten Hülle aus Gas und Plasma. Bei unserer Nachbargalaxie Andromeda ist sie sogar so groß, dass sie bis an den Rand der Milchstraße reicht. Typischerweise liegen im Halo einer Galaxie nur wenige Sterne, meist in Form von Kugelsternhaufen und Sternenströmen. Dafür sammelt sich im Halo besonders viel Dunkle Materie. Ihre Gravitationswirkung prägt das Verhalten der gesamten Galaxie.
Neuer Blick in den äußeren Halo
Während der innere Bereich des Milchstraßen-Halo relativ gut erforscht ist, gilt dies für seine mehr als 200.000 Lichtjahre vom galaktischen Zentrum entfernten Außenbereiche nicht. Doch gerade dort finden sich besonders aufschlussreiche Hinweise auf die Wechselwirkung unserer Galaxie mit nahen Nachbarn. Dort liegen beispielsweise Ströme aus Gas und Sternen, die ursprünglich aus zerstörten oder „beraubten“ Zwerggalaxien stammen.
Für die neue Karte des äußeren Halo haben Astronomen um Charlie Conroy von Harvard & Smithsonian Center for Astrophysics Daten des ESA-Satelliten Gaia und des NASA-Teleskops WISE ausgewertet. Für 1.301 massereiche Sterne aus dem Halo ermittelten sie Entfernungen und Bewegung und konnten so Zonen stellarer Ansammlungen und Dichteturbulenzen bis in eine Entfernung von 325.000 Lichtjahren vom galaktischen Zentrum identifizieren.
Zwei auffällige Zonen im Halo
Die neue Karte enthüllt zwei auffällige Zonen im Halo der Milchstraße – eine diffuse große Dichteansammlung in der Nordhälfte und eine konzentriertere, schweifförmige Zone im Süden. „Die Überdichte im Norden überspannt fast ein Viertel des gesamten Himmels“, berichten Conroy und sein Team. Ihre Ursache sind Schwerkraft-Wechselwirkungen der Milchstraße mit ihrem nächsten Nachbarn, der Großen Magellanschen Wolke.
Diese diffuse Zwerggalaxie umfasst rund ein Viertel der Milchstraßenmasse und nähert sich unserer Galaxie immer mehr an. Inzwischen ist sie nur noch rund 160.000 Lichtjahre vom galaktischen Zentrum entfernt. Damit bewegt sich die Große Magellansche Wolke schon innerhalb des Milchstraßen-Halo – und beeinflusst damit auch die Gravitationsbalance der Milchstraße. Wie die Astronomen erklären, hat sich durch diesen Einfluss das gemeinsame Massenzentrum beider Galaxien verlagert und damit ist auch mehr Material in den nördlichen Bereich des Halo gedriftet.
Kielwasser der Großen Magellanschen Wolke
Ebenfalls direkt mit der Großen Magellanschen Wolke verknüpft ist die schweifförmige Zone südlich der galaktischen Ebene. Sie ist nichts anders als eine Art Kielwasser der Zwerggalaxie: Während sich die Zwerggalaxie durch den Milchstraßen-Halo bewegt, hinterlässt sie auf ihrer Bahn Turbulenzen im Plasma, aber vor allem auch in der Dunkeln Materie. Die jetzt an den Sternen ablesbaren Auffälligkeiten spiegeln diese Turbulenzen ähnlich wider wie die auf einem See schwimmenden Blätter die Bewegungen des Wassers.
Das Interessante daran: Aus der Form, Stärke und Größe dieses schweifförmigen „Kielwassers“ können Astronomen nun Informationen darüber ableiten, welcher Bahn die Große Magellansche Wolke folgt und wie sich diese durch den Einfluss der Milchstraße verändert hat. So müsste die Zwerggalaxie gängigen Theorien nach bei einer so nahen Annäherung an Schwung verlieren – und dadurch bei jeder Umkreisung der Milchstraße langsamer werden und näher herankommen.
Erste Passage der Zwerggalaxie
Doch wie die Karte nun zeigt, kommen die Magellanschen Wolke der Milchstraße offenbar zum ersten Mal so nahe: „Der jetzt beobachtete sehr starke lokale Schweif belegt, dass die Magellanschen Wolken noch bei ihrer ersten Passage um unsere Galaxie sind“, erklären Conroy und sein Team. „Denn wenn die Wolken schon mehr als einen kompletten Orbit um die Milchstraße hinter sich hätten, wäre der Schweif schwächer und vielleicht gar nicht mehr detektierbar.“
Ein solches Auflösen beobachten Astronomen beispielsweise für die Relikte früherer Verschmelzungen der Milchstraße, von denen nur noch einzelnen Sterne oder ausgedünnte Sternenströme übriggeblieben sind. „Der Schweif in unserer Karte ist eine überzeugende Bestätigung, dass unsere grundlegenden Vorstellungen darüber, wie Galaxien verschmelzen, korrekt sind“, sagt Koautor Rohan Naidu von der Harvard University.
Hinweise auf Natur der Dunklen Materie
Die neue Halo-Karte könnte aber auch bei der Klärung eines der größten Rätsel des Kosmos helfen – der Natur der Dunklen Materie. Denn das „Kielwasser“ der Magellanschen Wolke erlaubt Rückschlüsse darauf, wie sich diese Materie verhält und welche Theorien zu ihrer Beschaffenheit mit den Beobachtungen übereinstimmen. „Das ist ähnlich wie bei der Kielwelle eines Boots, die sich verändert, wenn man durch Honig statt Wasser fahren würde“, sagt Conroy.
Auf gleiche Weise verrät die schweifförmige Kielwelle der Zwerggalaxie, welche Eigenschaften die von ihr aufgewirbelte Dunkle Materie hat. „Weil die Kielwelle von der gesamten Schwerkraft geprägt wird und nicht nur der der sichtbaren Sterne, ist ihre Existenz und Morphologie ein stringenter Test für Nichtstandard-Modelle wie fuzzy Dark Matter oder selbstinteragierende Dunkle Materie und auch für alternative Modelle der Gravitation“, konstatieren die Astronomen.
Ihre Karte und die darin erfassten astrophysikalischen Daten liefern nun die Voraussetzungen, um Beobachtungen und Modelle abzugleichen. (Nature Astronomy, 2021; doi: 10.1038/s41586-021-03385-7)
Quelle: NASA, Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics