Mythos der Evolutionsbiologie: Nach gängiger Lehrmeinung vermeiden die meisten Tiere instinktiv eine Inzucht – die Paarung mit engen Verwandten. Doch eine Metaanalyse weckt nun Zweifel an diesem vermeintlich natürlichen Tabu. Denn bei 88 Tierarten von der Fliege bis zum Schimpansen fand das Team keine eindeutigen Hinweise auf eine solche Inzuchtvermeidung – dafür aber ein deutliches Ungleichgewicht der Publikationen.
Die Paarung zwischen Geschwistern und anderen engen Verwandten ist in vielen menschlichen Gesellschaften tabu. Erklärt wird dies meist mit einer instinktiven Abneigung gegen Inzucht, die ihre Wurzeln schon im Tierreich haben soll. Denn gängiger Lehrmeinung nach führt die Inzucht zur genetischen Verarmung, kann Erbkrankheiten begünstigen und damit die biologische Fitness der Nachkommen verringern. Tatsächlich gibt es einige Tierarten, die nahe Verwandte am Geruch, den Lauten oder anderen Merkmalen erkennen und gezielt eine Paarung mit ihnen vermeiden.
Von der Fruchtfliege zum Schimpansen
Allerdings gibt es auch Beispiele für das Gegenteil: So bevorzugen Buntbarsche die Paarung mit den eigenen Geschwistern, weil ein verwandter Partner offenbar loyaler und zuverlässiger ist. Und selbst beim Menschen gab es immer wieder Gruppen, in denen Inzucht verbreitet war – von steinzeitlichen Bauern über die ägyptischen Pharaonen bis zum Herrschergeschlecht der Habsburger.
Was also ist dran an der natürlichen Inzucht-Vermeidung? Das haben Raissa de Boer von der Universität Stockholm und ihre Kollegen nun in einer Metaanalyse untersucht. Dafür werteten sie die Ergebnisse von 139 Studien zu 88 verschiedenen Tierarten aus – von der Fruchtfliegen über Fische und Vögel bis zu den Menschenaffen. Die aus 40 Jahren der Forschung stammenden Arbeiten hatten jeweils untersucht, ob Angehörige dieser Tierarten eher verwandte oder nicht-verwandte Partner bevorzugen und welche Begleitfaktoren eine Rolle spielen.
Keine ausgeprägte Inzuchtvermeidung
Das überraschende Ergebnis: Entgegen gängiger Erwartung zeigte sich keine klare Vermeidung von Inzucht. Zwar gab es auf den ersten Blick eine ganz leicht positive Gesamttendenz. „Aber eine nähere Prüfung unseres Datensatzes enthüllte, dass diese Effekte nicht robust waren“, so die Forschenden. „Stattdessen fanden wir konsistente Indizien für einen Publication Bias – eine Verzerrung durch eine voreingenommene Veröffentlichungspraxis.“
Das bedeutet: Studien, deren Ergebnis die gängige Lehrmeinung zum Inzuchtvermeidung stützen, wurden eher veröffentlicht als solche, die dies nicht taten. „Rechnet man diesen Publication Bias heraus, würden die Effekte entweder um Null liegen und damit weder eine Präferenz für Verwandte noch Nicht-Verwandte anzeigen oder aber negativ sein und damit eine Bevorzugung von Verwandten zeigen“, berichten die Forschenden. „Das spricht dafür, dass die Inzuchtvermeidung im Tierreich keineswegs allgegenwärtig ist.“
Unabhängig von Tierklasse und Art der Fortpflanzung
Interessant auch: Dieser Trend zur eher wahllosen oder zumindest nicht klar eine Inzucht vermeidenden Partnerwahl findet sich in allen Tierklassen wieder – ob bei den wirbellosen Insekten, Vögeln oder Säugetieren. Auch zwischen eierlegenden und lebendgebärenden Arten gab es ebenso wenig signifikante Unterschiede wie zwischen Arten mit männlicher oder weiblicher Partnerwahl, wie die Forschenden berichten.
„Tiere scheinen sich nicht besonders darum zu kümmern, ob ihr potenzieller Partner ein Bruder, eine Schwester, ein Cousin oder ein nichtverwandtes Individuum ist“, sagt de Boers Kollegin Regina Vega Trejo. Es gab allerdings einige Ausnahmen, in denen die Vermeidung einer Inzuchtpaarung mit der Enge der Verwandtschaft zunahm. „Aber selbst das kann nur drei Prozent der Effektvariation erklären“, so die Forschenden.
Wichtig für Evolutionsbiologie und Artenschutz
Nach Ansicht des Forschungsteams deuten diese Resultate darauf hin, dass die Tierwelt weit weniger Mechanismen gegen eine Inzucht entwickelt hat als bislang gedacht. „Dies hat große Bedeutung für die Fachgebiete der Evolutionsbiologie und des Artenschutzes“, konstatieren die Wissenschaftler. So zeigen die Ergebnisse, dass viele als zuvor als entscheidend geltende biologische Faktoren für die Inzuchtvermeidung kaum eine Rolle spielen.
Zudem könnte ein besseres Verständnis der Partnerwahl auch dazu beitragen, Zuchtprogramme für den Artenschutz erfolgreicher zu machen. (Nature Ecology and Evolution, 2021; doi: 10.1038/s41559-021-01453-9)
Quelle: Stockholm University