Rollenspezifische Vorbilder: Junge Orang-Utans lernen je nach Geschlecht unterschiedlich, wie Beobachtungen belegen. Demnach orientieren sich weibliche Jungtiere bei der Nahrungssuche vor allem an ihren Müttern oder anderen Weibchen, junge Männchen wählen dagegen fremde ausgewachsene Männchen als Vorbilder. Durch dieses geschlechtsspezifische Lernen erwerben beide Geschlechter jeweils das Wissen, das sie später zum Überleben brauchen.
Sind geschlechtsspezifische Unterschiede im Verhalten oder im Lernen biologisch bedingt? Oder sind sie durch die Gesellschaft und unwillkürliche Rollenzuweisungen angelernt? Bisher gibt es auf diese Fragen keine eindeutige Antwort, zumindest beim Menschen sind die Einflussfaktoren zu komplex und miteinander verwoben. Daher liegt ein Blick zu unseren engsten Verwandten nahe. Dieser zeigt, dass es auch bei Menschenaffen geschlechtsspezifische Unterschiede gibt: Weibliche Jungschimpansen spielen beispielsweise anders als männliche und Gibbon-Weibchen sind zögerlicher gegenüber Neuem. Bei Schimpansen jagen und fressen die Männchen zudem häufiger Fleisch.
Wie kommt es zu den Verhaltensunterschieden?
Wie es zu solchen geschlechterspezifischen Verhaltensweisen kommt, haben Forscher um Beatrice Ehmann von der Universität Zürich jetzt am Beispiel der Orang-Utans untersucht. Bekannt war bei diesen bereits, dass die Jungtiere mehrere Jahre brauchen, um die Nahrungssuche zu erlernen, und dass sie sich dabei an ihren Artgenossen orientieren. Ehmann und ihre Kollegen wollten nun herausfinden, wen genau die jungen Orang-Utan-Weibchen und -Männchen als Vorbilder nehmen.
Dazu analysierte das Forscherteam detaillierte Beobachtungsdaten aus 15 Jahren zum sozialen Lernen und den Ernährungsgewohnheiten von 50 jungen Orang-Utans aus zwei wilden Sumatra-Populationen. Um das soziale Lernen von Artgenossen zu ermitteln, verglichen die Wissenschaftler, wie oft die Jungtiere ihre erwachsenen Artgenossen beobachten und wie viel Zeit sie in deren unmittelbarer Nähe verbrachten.
Weibchen beobachten ihre Mütter, Männchen eher Fremde
Das Ergebnis: Für die Nahrungssuche nahmen die jungen Orang-Utans je nach Geschlecht andere Artgenossen zum Vorbild. So zeigte sich, dass zwar in den ersten drei Lebensjahren weibliche wie männliche Jungtiere vor allem ihre Mutter beobachteten. Doch danach, während des Aufwachsens, änderte sich dies: Junge Weibchen richteten einen Großteil ihrer sozialen Aufmerksamkeit weiterhin auf ihre Mütter oder bekannte Weibchen aus der Umgebung.
Die jungen Männchen beobachteten dagegen ab dem Alter von etwa drei Jahren vorwiegend ausgewachsene Orang-Utan-Männchen, darunter vor allem diejenigen, die aus fremden Gebieten eingewandert waren. „Bei jungen Männchen ist die Wahrscheinlichkeit signifikant höher, dass sie zugewanderten Individuen, einschließlich adulten Männchen und unabhängigen Jungtieren beider Geschlechter, zuschauen“, so das Team.
Vorbereitung aufs Erwachsensein
Als Folge dieser Entwicklung hatten sich die jungen Orang-Utan-Weibchen im Alter von etwa acht Jahren im Verhalten stärker an ihre Mütter angeglichen und suchten auch ähnliche Nahrung. Bei den Männchen stand dagegen zu 35 Prozent auch Futter auf dem Speiseplan, das es bei ihren Müttern nicht gab. „Bemerkenswert ist, dass einige der Nahrungsmittel, die von den jungen Männchen gefressen wurden, vorwiegend von Einwanderern beider Geschlechter gefressen wurden“, berichtet das Forschungsteam.
Den biologischen Sinn dahinter sehen Ehmann und ihre Team in einer Vorbereitung auf die spätere Lebensweise: Orang-Utan-Weibchen sind meist ortstreu und bleiben auch als Erwachsene in ihrem angestammten Gebiet. Für sie ist es daher vorteilhafter, Kenntnisse zu erlernen, die zur Nahrungssuche in ihrer Heimat nützlich sind. Geschlechtsreife Männchen dagegen verlassen das heimische Gebiet. Sie können daher eher davon profitieren, von Artgenossen aus anderen Gebieten zu lernen und so ein breites Nahrungsspektrum zu entwickeln.
Vermutlich auch bei anderen Primaten
„Unsere Studie zeigt, dass junge Orang-Utans geschlechtsspezifische Aufmerksamkeitspräferenzen zeigen, wenn es um Vorbilder neben ihrer Mutter geht“, sagt Ehmanns Kollegin Caroline Schuppli. „Unsere Ergebnisse liefern auch Hinweise darauf, dass diese Vorlieben zu unterschiedlichen Lernergebnissen führen und somit ein wichtiger Weg für Orang-Utans sein könnten, geschlechtsspezifische Futtermuster zu erlernen.“
Orang-Utans gelten im Gegensatz zu Schimpansen, Bonobos und Co. als weniger gesellig. Dennoch gehen Ehmann und ihre Kollegen davon aus, dass sich wahrscheinlich auch andere Primaten auf diese Weise geschlechterspezifische Verhaltensweisen aneignen. (PLOS Biology, 2021, doi: 10.1371/journal.pbio.3001173)
Quelle: PLOS