Anders als gedacht: Astronomen haben die erste systematische Kartierung von Sternenwiegen in unserer kosmischen Nachbarschaft durchgeführt – und überraschende Einblicke gewonnen. Denn die gut 100.000 kalten Molekülwolken in 90 nahen Galaxien sind kurzlebiger und unterschiedlicher als gedacht. Zudem sind diese Gaswolken überraschend ineffiziente Sternenfabriken, wie die von den Radioteleskopen des ALMA-Observatoriums ermittelten Daten enthüllen.
Sterne entstehen in dichten Wolken aus kalten Gasen und Staub. Wenn Teile dieser Wolken durch Turbulenzen und Schwerkrafteinflüsse kollabieren, wird das Material so stark komprimiert und erhitzt, dass die Kernfusion zündet – ein neuer Stern entsteht. Auch unsere Sonne wurde gemeinsam mit anderen Sternen in einer solchen Sternenwiege gebildet. Welche Prozesse die Bildung neuer Sterne und deren Eigenschaften prägen, versuchen Astronomen durch Beobachtungen und Simulationen herauszufinden.
Schärfster Radioblick auf stellare Kinderstuben
Jetzt haben Astronomen erstmals nicht nur einzelne Sternenwiegen in einer Galaxie angeschaut, sondern die gesamte Population solcher kalten Gaswolken in unserer näheren kosmischen Umgebung kartiert und im Detail beobachtet. Für das PHANGS-ALMA-Projekt durchmusterten sie im Laufe der letzten fünf Jahre mehr als 90 Galaxien im Umkreis von gut 30 Millionen Lichtjahren und erfassten die Merkmale von mehr als 100.000 Sternenwiegen.
Möglich wurde dies dank der hohen Auflösung des Atacama Large Millimeter/submillimeter Array (ALMA) in Chile. „Dies ist das erste Mal, dass wir Millimeterwellen-Aufnahmen so vieler naher Galaxien haben, die die gleiche Schärfe und Qualität haben wie optische Aufnahmen“, erklärt Erstautor Adam Leroy von der Ohio State University. „Während optische Aufnahmen nur das Licht der Sterne zeigen, sehen diese Bilder das Glühen des Gases und Staubs, aus dem Sterne entstehen.“
Die ALMA-Kartierung erlaubt es erstmals, die Merkmale von Sternbildungsregionen systematisch und galaxienübergreifend zu vergleichen. „Dies ist das erste Mal, dass wir einen kompletten Überblick dieser stellaren Kinderstuben im gesamten nahen Universum haben“, sagt Leroy. Insgesamt habe sich die Datenmenge dazu dadurch nun verzehnfacht.
Auf die Lage kommt es an
Die neuen Daten erbrachten gleich mehrere Überraschungen. Eine davon: „Wir Astronomen dachten bisher immer, dass alle Sternenwiegen mehr oder weniger gleich aussehen“, erklärt Leroy. „Aber mit dieser Durchmusterung stellen wir fest, dass das nicht der Fall ist.“ Stattdessen hängt beispielsweise die Größe und Aktivität einer Sternbildungsregion stark von ihrer Lage ab: Gaswolken im dichten Zentrum einer Galaxie sind massereicher, dichter und turbulenter als solche in den Außenbezirken. Auch die Sternbildungsrate ist in den zentraler gelegenen Sternenwiegen höher.
Wo eine Sternenwiege liegt, ist demnach ein wichtiges Merkmal. „Um zu verstehen, wie Sterne entstehen, müssen wir die Geburt jedes einzelnen Sterns zurück zu seinem Ursprungsort im Kosmos zurückverfolgen“, erklärt Eva Schinnerer vom Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg. „Das ist genauso, als wenn wir eine Person in ihrer Wohnung, Nachbarschaft, Stadt und Region verorten.“
Vom eigenen Nachwuchs zerstört
Überraschend auch: Die stellaren Kinderstuben sind weit kurzlebiger als angenommen, wie die Beobachtungen ergaben. Im Schnitt bleiben die Gaswolken demnach nur zehn bis 30 Millionen Jahre lang erhalten – nach astronomischen Maßstäben ist dies eine extrem kurze Zeit. Ursache dafür sind zum einen die in diesen Wolken gebildeten Sterne selbst. Die starke Strahlung und Hitze der jungen Sterne löst die kalten Molekülwolken auf und beseitigt damit den Rohstoff für die Bildung weitere Sterne. „Sterne sind sehr undankbare Kinder“, sagt Leroy.
Die Lebensdauer einer Sternenwiege hängt aber auch von ihrer galaktischen Umgebung ab: „Wie schnell eine solche Gaswolke neue Sterne produziert und damit den Prozess in Gang setzt, der sie letztlich zerstören wird, scheint auch von ihrer Lage innerhalb der Galaxie abzuhängen“, berichtet Koautorin Annie Hughes von der Universität von Toulouse. Je zentraler die Wolke liegt, desto intensiver ist ihre Sternbildung und desto kurzlebiger ist sie.
Gleichzeitig enthüllten die Vergleiche auch, dass die molekularen Gaswolken keine sehr effizienten Sternenfabriken sind: Sie produzieren weit weniger Sterne als es mit ihrem Gas- und Staubvorrat möglich wäre.
Erst der Anfang
Insgesamt hat die Kartierung damit ganz neue Einblicke in die Kinderstuben der Sterne gegeben. „Indem wir die verschiedenen Galaxienarten und galaktischen Umgebungen kartieren, können wir die gesamte Bandbreite der Bedingungen nachvollziehen, unter denen sternbildende Gaswolken in unseren heutigen Universum existieren“, sagt Koautor Guillermo Blanc von der Carnegie Institution for Science. „Das erlaubt es uns, den Einfluss der vielen verschiedenen Variablen auf die Sternbildung zu messen.“
Schon jetzt hat die PHANGS-ALMA-Kartierung Stoff für 20 Fachpublikationen geliefert – zehn davon werden in dieser Woche beim Kongress der American Astronomical Society vorgestellt. Doch das ist erst der Anfang: Die Astronomen haben ihre Daten nun öffentlich zugänglich gemacht und geben damit auch anderen Forschungsteams die Möglichkeit, weitere Studien durchzuführen. „Dieser Datensatz wird noch lange nützlich sein und wir werden in den nächsten Jahren noch viel von ihm lernen“, sagt Leroy. (238th meeting of the American Astronomical Society, Astrophysical Journal Supplement, accepted; arXiv:2104.07739)
Quelle: National Radio Astronomy Observatory, Ohio State University