Vom Vergessen bedroht: Mit dem Schwinden der Naturvölker und ihrer Sprachen geht auch wertvolles Medizinwissen verloren. Denn die Nutzungsmöglichkeiten und Anwendungen von Heilpflanzen werden oft nur in einer einzigen indigenen Sprache weitergegeben – im Amazonasgebiet sind es sogar 100 Prozent, wie eine Studie enthüllt. Stirbt diese Sprache aus, könnte das biokulturelle Erbe der jeweiligen Volksgruppe für immer verloren gehen.
Ob Lotwurz, Tataren-Aster oder Regenwald-Liane: Trotz moderner Hightech-Medizin ist die Natur noch immer der wichtigste Lieferant für neue Medikamente. Vor allem Medizinpflanzen bieten eine Fülle noch weitgehend unerforschter Wirkstoffe. Das Problem jedoch: Nur ein Bruchteil der potenziellen Heilpflanzen ist bislang wissenschaftlich beschrieben, oft kennen nur die in ihrem Verbreitungsgebiet lebenden Naturvölker ihr Aussehen und ihre Wirkung.
Sprache konserviert Pflanzenwissen
Genau an diesem Punkt setzt die Studie von Rodrigo Cámara-Leret und Jordi Bascompte von der Universität Zürich an. „Wir wollten wissen, in welchem Maße indigene Heilpflanzen-Kenntnisse mit einzelnen Sprachen verknüpft sind und wie viel von diesem Wissen verloren gehen könnte, wenn diese Sprachen aussterben“, erklären sie. Denn von den fast 7.400 Sprachen weltweit sind nur wenige schriftlich fixiert und vielen gehen die Sprecher aus – sie werden kaum noch an die nächste Generation weitergegeben.
Nach Schätzungen von Linguisten könnten bis Ende dieses Jahrhunderts 30 Prozent aller Sprachen ausgestorben sein. Wenn es aber für eine Heilpflanze nur in einer dieser bedrohten Sprachen eine Bezeichnung oder Beschreibung gibt, kann das bedeuten, dass auch ihr Name und ihre medizinische Bedeutung in Vergessenheit geraten. Um dieses Risiko abschätzen zu können, haben die beiden Forscher für drei Regionen – Nordamerika, das Amazonasgebiet und Neuguinea – mehr als 3.500 Heilpflanzenarten, ihre Anwendungen und ihre indigenen Bezeichnungen untersucht.
Verlust des biokulturellen Erbes
Das Ergebnis: „Wir fanden heraus, dass über 75 Prozent der Verwendungszwecke von Arzneipflanzen jeweils nur in einem indigenen Volk – und daher nur in einer Sprache – bekannt sind“, berichtet Cámara-Leret. Im Amazonasgebiet haben sogar 91 Prozent der Heilpflanzen nur Namen und begleitendes Wissen in einer einzigen Sprache. Und diese Zahlen gelten für Pflanzen, die zwar nicht umfassend untersucht, aber immerhin schon in ethnobotanischen Studien erfasst wurden. Viele weitere dürften dagegen noch vollkommen unbekannt sein.
„Das unterstreicht das einzigartige biokulturelle Erbe, das jede dieser Volksgruppen besitzt“, so die Wissenschaftler. Abe wie groß ist die Gefahr, dass dieses Pflanzenwissen verloren geht? Wie die Forscher herausfanden, umfassen die akut bedrohten Sprachen in Nordamerika 86 Prozent des einzigartigen Heilpflanzenwissens, im nordwestlichen Amazonasgebiet sind es sogar 100 Prozent. „Der prognostizierte Verlust von bis zu 30 Prozent der indigenen Sprachen würde daher die Chance der Menschheit auf medizinische Neuentdeckungen stark schmälern“, konstatieren Cámara-Leret und Bascompte.
Nach Ansicht der beiden Forscher ihre Studie damit, wie wichtig die von der UN aus gerufene Internationale Dekade der indigenen Sprachen ist. „Wir stimmen mit der Vision der UN überein. Es sollten mehr Ressourcen für die Erhaltung, Wiederbelebung und Förderung bedrohter Sprachen mobilisiert werden“, sagt Bascompte. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2021; doi: 10.1073/pnas.2103683118)
Quelle: Universität Zürich