Überraschend nachaktiv: Bäume wachsen anders als gedacht, wie eine Langzeitstudie enthüllt. Demnach findet das Wachstum der Gehölze nicht kontinuierlich oder tagsüber statt, sondern vorwiegend nachts – meist zwischen Mitternacht und dem frühen Morgen. Der Grund: In dieser Zeit ist die Luftfeuchtigkeit höher – und das ist für die Bäume offenbar noch wichtiger als Bodenwasser und der Nährstoff-Nachschub durch die Photosynthese, wie die Forscher berichten.
Das Wachstum der Bäume ist entscheidend für die Regeneration der Wälder, für die Holzproduktion und für die Bindung von Kohlendioxid aus der Luft. Doch wann und wie wächst ein Baum? Bisher ging man davon aus, dass das Wachstum vor allem von zwei Faktoren abhängt: vom Nachschub an chemischen Rohstoffen durch die Photosynthese und von der Verfügbarkeit von Wasser. Weil die Photosynthese tagsüber am aktivsten ist, galt auch der Tag als die Zeit des stärksten Baumwachstums.
Stündliche Wachstumsmessung über Jahre hinweg
Doch das ist ein Irrtum, wie nun Roman Zweifel von der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL und seine Kollegen herausgefunden haben. Für ihre Studie haben sie erstmals das Dickenwachstum von Bäumen über mehrere Jahre hinweg und trotzdem stündlich gemessen. Dafür befestigten sie spezielle Sensoren an den Stämmen von Buchen, Eichen, Fichten, Kiefern und anderen heimischen Baumarten an 50 Standorten in der Schweiz.
Im Verlauf von bis zu acht Jahren zeichneten die Dendrometer das subtile An- und Abschwellen der Baumrinde auf, das von der Wasserversorgung des Baumes abhängt. Sie registrierten aber auch die darunterliegende Dickenzunahme durch das Wachstum des Baumes. Zusätzlich zu diesen Daten erfasste das Team auch äußere Faktoren wie Temperatur und Feuchtigkeit der Luft sowie den Wassergehalt des Bodens.
Wachstums-Peak nach Mitternacht
Die Messungen enthüllten: Bäume wachsen keineswegs kontinuierlich, sondern nur wenige Stunden pro Tag. Dieses Wachstum findet zudem nicht tagsüber statt, sondern in der Nacht: „Die Rotbuche erreichte gegen 01:00 Uhr nachts den Höhepunkt ihres Wachstums, die anderen Baumarten hatten ihre größten Wachstumsschübe zwischen 02:00 Uhr nachts und 06:00 Uhr morgens“, berichten Zweifel und sein Team. Mittags und am Nachmittag gab es dagegen fast keine Größenzunahme.
Das bedeutet: Bäume wachsen nicht im Hellen, sondern vorwiegend im Dunkeln – und das auch nur an wenigen Tagen im Jahr. Wie die Forschenden ermittelten, beschränkt sich das Wachstum je nach Baumart auf 15 bis 30 Tage der Vegetationsperiode. Am wenigsten Wachstumsstunden hatten Eiche und Kiefer, am meisten Rotbuche und Tanne. Was aber begrenzt das Wachstum der Bäume? Und warum legen sie nur nachts zu? Um das herauszufinden, nahm das Team die begleitend erhobenen Klimadaten näher in Augenschein.
Feuchtigkeit der Luft entscheidend
Es zeigte sich: Entgegen früheren Annahmen spielen nicht Photosynthese und der Bodenwassergehalt die entscheidende Rolle, sondern die Luftfeuchtigkeit. Sinkt der Wasserdampfgehalt der Luft zu weit ab, verlieren die Bäume mehr Wasser durch die Transpiration, als sie über ihre Wurzeln aufnehmen können. Dadurch sinkt die die Saugspannung des Wassers im Baum und es kommt zu einem Wasserdefizit in den Geweben. Als Folge stoppt das Wachstum.
Wie die Wissenschaftler feststellten, reagieren die Gehölze dabei deutlich sensibler auf zu trockene Luft als auf einen mangelnden Nachschub an Nährstoffen. „Mit anderen Worten: Bäume hören auf zu wachsen, bevor die Photosynthese gehemmt wird“, erklärt Zweifel. Das erklärt, warum die Bäume in der heißesten und trockensten Zeit des Tages am wenigsten wachsen – meist ist dann die Luft zu trocken. Erst wenn sich das Wasserdefizit im Verlauf der Nacht ausgeglichen hat, wird der Baum wieder aktiv.
Unterschiede zwischen den Baumarten
Unerwartet war auch, dass die Wasserverfügbarkeit im Boden das Baumwachstum weniger einschränkte als die Luftfeuchtigkeit: „Die größte Überraschung für uns war, dass die Bäume sogar in mäßig trockenen Böden wuchsen, sofern die Luft ausreichend feucht war. Umgekehrt blieb das Wachstum sehr gering, obwohl der Boden feucht, zeitgleich die Luft aber trocken war“, berichtet Zweifel.
Dabei gab es allerdings deutliche Unterschiede zwischen den Baumarten: Während der Bodenwassergehalt für den Wachstumsrhythmus der Steineiche keine Rolle spielte, lag sein Einfluss bei den meisten Nadelbäumen mit bis zu 27 Prozent deutlich höher, wie die Forscher feststellten. Die Schwelle für den Wasserdampfdruck der Luft war dagegen bei allen Baumarten nahezu gleich.
Wichtig für Waldumbau und Klimamodelle
Nach Ansicht der Wissenschaftler verändern diese Erkenntnisse nicht nur die Sicht auf das Baumwachstum per se, sie haben auch große Bedeutung für die Anpassung der Wälder an den Klimawandel. Denn bisher verwendete Klima-Waldentwicklungsmodelle beruhen hauptsächlich auf Jahresmittelwerten des Wachstums und berücksichtigen die Tagesschwankungen und ihre Einflussfaktoren kaum.
Das Wissen um die artspezifischen Ansprüche der Bäume an die Luftfeuchtigkeit ist jedoch wichtig, um beispielsweise geeignete Baumarten für trockener und wärmer werdende Standorte auszuwählen. Schon jetzt zeigen Studien, dass viele heimische Bäume unter dem Einfluss der Klimaveränderungen messbar langsamer wachsen. Zudem tragen die neuen Ergebnisse auch dazu bei, die Bindung von Kohlendioxid durch das Baumwachstum – und damit den Puffereffekt der Wälder – künftig präziser einzuschätzen. (New Phytologist¸2021; doi: 10.1111/nph.17552)
Quelle: Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL