Neurobiologie

Neue Art von Gehirnzellen entdeckt

Neuronen reagieren nur auf vertraute Gesichter und vereinen Wahrnehmung und Erinnerung

Neuronen
Eine neuentdeckte Gruppe von Neuronen reagiert nur auf vertraute Gesichter – und vereint dabei Wahrnehmung mit Erinnerung auf einzigartige Weise. © libre de droit / Getty images

Endlich gefunden: Schon seit Jahrzehnten suchen Wissenschaftler nach den „Großmutter-Neuronen“ – Hirnzellen, die nur auf vertraute Gesichter reagieren. Jetzt haben sie eine Zellgruppe im Schläfenlappen identifiziert, die genau diese Verknüpfung von Erinnerung und optischer Wahrnehmung leistet. Anders als schon bekannte Zentren der Gesichtserkennung feuern diese Neuronen nicht bei allen Gesichtern, sondern nur bei eng vertrauten – virtuelle Kontakte zählen dabei offenbar nicht.

Ob Familienangehörige, Arbeitskollegen oder enge Freunde – das Erkennen bekannter Gesichter ist für unser Sozialleben fundamental wichtig. Doch wo genau dies passiert und wie, ist erst in Teilen bekannt. So weiß man, dass ein Zentrum der Gesichtserkennung im sogenannten fusiformen Gesichtsareal liegt, einem kleinen Gebiet in der Spindelwindung des Schläfenlappens. Dieses Areal wird immer dann aktiv, wenn wir ein Gesicht sehen. Über eine direkte Verbindung ist es zudem mit dem Zentrum für die Stimmenerkennung verknüpft.

Auf der Suche nach den „Großmutter-Neuronen“

Strittig war bisher jedoch, wo und wie unser Gehirn vertraute Gesichter erkennt. Denn dafür muss es nicht nur erkennen, dass es sich um ein Gesicht handelt, es muss auch das Gesehene mit abgespeicherten Erinnerungen abgleichen. Dies könnte über eine Verschaltung von Gesichtserkennungs-Arealen mit Gedächtniszentren passieren. Alternativ postulierten einige Neurowissenschaftler schon in den 1960er Jahren die Existenz spezialisierter Neuronen, die Erkennen und Speichern in einem leisten.

Konkret würde das bedeuten, dass diese Neuronen für jeweils nur ein Gesicht zuständig sind. Eines reagiert nur auf das Gesicht unserer Großmutter, eines auf unser Kind oder die beste Freundin – so die Theorie. Nach ihr dürften diese „Großmutter-Neuronen“ zudem nur auf vertraute Gesichter reagieren, den Rest übernimmt das allgemeine Gesichtserkennungs-Zentrum. Bisher konnte man die Existenz dieser spezifischen Hirnzellen aber nicht nachweisen.

Aktivität nur bei vertrauten Gesichtern

Jetzt hat sich dies geändert. Denn Sofia Landi von der Rockefeller University in New York und ihre Kollegen haben eine kleine Gruppe von Neuronen entdeckt, die ganz ähnlich reagieren wie die lange postulierten „Großmutter-Neuronen“. „Diese Zellen reagieren nur auf Gesichter, die dem Individuum persönlich bekannt sind „, berichtet das Team. „Damit haben wir etwas gefunden, dass dem Großmutter-Neuron sehr nahekommt: Zellen, die Gesichtserkennung und Erinnerung in sich vereinen.“

Für ihre Studie hatten die Forschenden die Hirnaktivität von Makaken mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) aufgezeichnet, während diese sich Portraitbilder von Artgenossen, Menschen und Objekte ansahen. Einige davon waren den Affen durch persönlichen Kontakt vertraut, andere dagegen hatten sie zuvor nur flüchtig auf einem Bildschirm gezeigt bekommen. Aus früheren Studien weiß man, dass die Gesichtserkennung der Makaken fast genauso funktioniert wie bei uns Menschen.

Temporalpol
Die „Großmutter-Neuronen“ sitzen an der Spitze des Schläfenlappens. © Sofia Landi

Extrem spezifische Reaktion

Es zeigte sich: Während das schon bekannte Gesichtserkennungs-Zentrum jedes Mal aktiv wurde, wenn die Affen ein Gesicht sahen – egal ob bekannt oder unbekannt, war dies bei einem kleinen Areal an der Spitze des Schläfenlappens nicht der Fall. Die Zellen am Temporalpol feuerten nur, wenn die Makaken das Gesicht eines ihnen persönlich bekannten Artgenossen sahen. In geringerem Maße reagierten sie auch auf vertraute menschliche Gesichter, wie das Team berichtet.

„Eine Beispielzelle aus dem Temporalpol reagierte bei keinem der 145 gezeigten Gesichtsstimuli – mit einer Ausnahme: dem Gesicht eines eng vertrauten Artgenossen“, schreiben Landi und ihre Kollegen. „Eine andere Zelle feuerte nur bei den Gesichtern einiger weniger bekannter Mit-Affen.“ Insgesamt reagierten 90 der 98 in diesem Areal identifizierten Neuronen spezifisch auf nur ein oder wenige bekannte Gesichter. „Beim schon bekannten Gesichtszentrum gab es dagegen keinerlei Unterschiede zwischen den Kategorien“, so das Team.

Wahrnehmung und Erinnerung in einer Zellgruppe

Weitere Tests ergaben, dass die Temporalpol-Zellen die vertrauten Gesichter ohne Hilfe durch verknüpfte Areale erkannten und dies extrem schnell. „Die dominanten Modelle der Gesichtserkennung postulieren, dass es eine sequenzielle Abfolge von der Verarbeitung einer Gesichtswahrnehmung bis zu dessen Erkennung gibt“, erklären die Forschenden. Wenn die „Großmutter“-Zellen in dieser Abfolge hinter das bekannte Gesichtserkennungs-Zentrum und geschaltet wären, müsste ihr Feuern daher leicht verzögert erfolgen.

Doch das ist nicht der Fall. „Die Temporalpol-Zellen reagieren überraschend schnell auf Informationen“, berichten die Wissenschaftler. „Das könnte das erstaunliche Tempo erklären, mit dem wir vertraute Gesichter erkennen.“ Gleichzeitig spricht dies dagegen, dass diese Neuronen ihre Informationen erst mit externen Gedächtnisarealen abgleichen müssen.

Neue Klasse von Neuronen

Nach Ansicht des Forschungsteams deuten alle Ergebnisse darauf hin, dass es sich um eine völlig neue Klasse von Neuronen handelt, die Sinneswahrnehmung und Erinnerung in sich vereinen. „Einerseits sind diese Zellen sehr sensorisch und visuell, andererseits arbeiten sie wie Gedächtniszellen“, sagt Landis Kollege Winrich Freiwald. Sie bilden damit eine Schnittstelle zwischen beidem.

Interessant auch: Die „Großmutter“- Zellen reagierten nicht auf Gesichter, die die Makaken zuvor nur am Bildschirm gesehen hatten. Selbst wenn die Affen die entsprechenden Artgenossen oder Personen schon mehrfach virtuell betrachten konnten, blieben die Zellen am Temporalpol stumm. „Das unterstreicht möglicherweise die Bedeutung der persönlichen Begegnung – vor allem angesichts des Trends zum virtuellen Kontakt“, sagt Landi. Es könnte sein, dass Gesichter, die wir am Bildschirm sehen, nicht die gleiche neuronale Aktivität auslösen wie diejenigen, die wir persönlich treffen.

„Wir zeigen damit, dass persönliche Begegnungen die erstaunliche Fähigkeit haben, ein kleines Stück unserer Großhirnrinde für sich zu reklamieren und dort sehr spezifische Erinnerungen abzuspeichern“, konstatieren die Forschenden.

Neue Ansätze gegen Gesichtsblindheit

Das Wissen um diese spezifischen „Großmutter“-Zellen wirft aber nicht nur ein neues Licht auf unsere Gesichtserkennung, es könnte auch Ansätze bieten, um Menschen mit Gesichtsblindheit zu helfen. Bei dieser sogenannten Prosopagnosia können die Betroffenen sich keine Gesichter merken und erkennen selbst enge Angehörige nur an der Stimme, der Kleidung oder bestimmten Körpermerkmalen. (Science, 2021; doi: 10.1126/science.abi6671)

Quelle: Rockefeller University

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