Schon seit Jahrzehnten wird die Kernfusion vollmundig als Energie der Zukunft beworben, als Lösung aller Energie- und Klimaprobleme. Doch der Weg dorthin ist aufwendig und zäh – und das Ganze ist nicht unumstritten – im Gegenteil. Auch in der Wissenschaft gibt es einige Stimmen, die die Stromerzeugung durch Fusionsreaktoren wie die geplanten ITER-Nachfolger für einen teuren Irrweg halten. Einer der Gründe: Obwohl die Kernfusion schon seit Jahrzehnten erforscht wird, sind einige Probleme auch bei ITER nicht vollends gelöst.
Nur 20 Kilogramm Tritium weltweit
Eines davon ist der Nachschub an Brennstoff: ITER und auch künftige Fusionsreaktoren verwenden eine Mischung aus Deuterium und Tritium – beides sind Isotope des Wasserstoffs mit einem beziehungsweise zwei zusätzlichen Neutronen. Während sich Deuterium relativ einfach aus Wasser anreichern lässt, sieht es beim Tritium jedoch anders aus.
In der Natur sind nur winzigste Mengen Tritium vorhanden, weil dieses Wasserstoff-Isotop radioaktiv ist und mit einer Halbwertzeit von gut zwölf Jahren zerfällt. Die gesamte Biosphäre der Erde enthält dadurch nur rund 3,5 Kilogramm natürliches Tritium, den größten Teil davon im Meerwasser. Das Isotop entsteht aber auch als Nebenprodukt in Atomreaktoren, deren Neutronenstrahlung mit schwerem Wasser gedämpft wird, sowie in den Brennelementen der Reaktoren.
Das Problem: Die Isolierung des Tritiums aus den radioaktiven Rückständen ist aufwendig und die gewinnbaren Mengen sind äußerst gering. Zurzeit umfasst der gesamte weltweite Tritiumvorrat daher weniger als 20 Kilogramm – Tendenz eher abnehmend. Denn der Candu-Reaktortyp, in dem dieses Isotop entsteht, wird nur noch in einer Handvoll Länder genutzt, darunter Rumänien oder Indien.
Tritium Marke Eigenbau
ITER benötigt zwar immer nur wenige Gramm Tritium pro Plasma und wird davon einen Teil wiedergewinnen. In den 15 Jahren seiner geplanten Betriebsdauer wird die Fusionsanlage aber etwa 20 Kilogramm und damit das Äquivalent des gesamten Weltvorrats an Tritium benötigen. Künftige Fusionskraftwerke werden jedoch deutlich mehr Tritium benötigen, wie auch das ITER-Konsortium einräumt: „Ein stromproduzierendes Fusionskraftwerk in industriellem Maßstab zu betreiben würde im Schnitt 70 Kilogramm Tritium pro Gigawatt thermischer Leistung brauchen“, heißt es. „Es existiert keine externe Quelle an Tritium, die den Bedarf einer Fusionsenergie nach ITER decken könnte.“
Damit scheint klar: Die Stromerzeugung mittels Kernfusion hat ein Nachschubproblem, bevor sie richtig begonnen hat – oder doch nicht? Tatsächlich gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma, weil Fusionsreaktoren ihr eigenes Tritium erzeugen können. Dies geschieht, wenn die bei der Kernfusion freigesetzten energiereichen Neutronen auf das Lithium-Isotop 6Li treffen. Bei diesem Beschuss zerfällt das Lithium in Helium und Tritium. Nach Angaben des ITER-Konsortiums benötigt man 140 Kilogramm Lithium-6 um die 70 Kilogramm Tritium zu produzieren, die ein kommerzieller Fusionsreaktor für ein Gigawatt Wärmeleistung im Jahr brauchen würde.
Wie funktioniert das Tritium-„Breeding“?
Konkret findet die Tritiumproduktion in einem Fusionsreaktor im sogenannten Blanket statt – dem Schutzpanzer, der die Innenwand des Plasmagefäßes abschirmt. Die 440 jeweils gut 4,5 Tonnen schweren Blanketmodule von ITER bestehen aus einer abnehmbaren ersten Wand aus Beryllium, gefolgt von dicken Platten aus Kupfer und Edelstahl. Die Platten sind von Kühlwasser durchströmt.
Die Aufgabe des Blankets ist es, die bei der Fusion entstehenden schnellen Neutronen abzufangen und ihre kinetische Energie in Wärme umzuwandeln. In Fusionskraftwerken wird diese dann zur Stromerzeugung genutzt. Um mit den Blankets Tritium zu produzieren, müssen die Platten entweder Lithium in flüssiger Form enthalten, beispielsweise in Form des bei 235 Grad schmelzenden Lithiumbleis (LiPb), oder aber feste Lithiumverbindungen wie das keramische Lithiumsilikat (Li4SiO4).
Flüssig oder fest?
Beide Lithiumformen haben allerdings praktische Nachteile: Das flüssige Lithiumblei interagiert mit den magnetischen Feldern im Fusionsreaktor und muss daher gegen die metallischen Wände des Blankets isoliert oder anderweitig am Strömen gehindert werden. Bei den festen Lithiumverbindungen besteht das Problem nicht, dafür kann das Material nicht im laufenden Betrieb ersetzt werden. Um das verbrauchte Tritium zu ersetzen, muss das gesamte Blanketmodul ausgetauscht werden.
In ITER wird es für Tests der Tritium-Erzeugung aus Lithium-6 mehrere Wandmodule geben, die mit verschiedenen Versionen von „Breeder-Blankets“ ausgerüstet werden können. Darunter sind Blankets mit flüssigem Lithiumblei, festem Lithium sowie mit zwei unterschiedlichen Kühlmethoden. Gekoppelt mit diesen Breeder-Blankets ist eine ganze Anlage, die die Module ferngesteuert austauschen kann und die das produzierte Tritium aus dem Material isoliert und weiterverarbeitet. „Die Test-Blankets sind daher nur die Spitze des Eisbergs“, erklärt Mario Merola vom ITER-Testprogramm für das Tritium-Breeding. Hauptaufgabe für ITER wird es in jedem Fall sein, die Machbarkeit dieser Art der Tritiumproduktion zu beweisen.
Und woher kommt das Lithium?
Während ITER diese Form der Tritium-Erzeugung nur testen wird, sollen spätere Fusionskraftwerke sich mithilfe dieser Technologie komplett selbst mit dem nötigen Tritium versorgen können – so die Vorstellung der Fusionsbefürworter. Es stellt sich allerdings die Frage, ob das Rohstoffproblem dann nicht einfach nur eine Ebene weiter verschoben wird. Denn auch Lithium gilt als knapper Rohstoff, der vor allem durch den Bedarf für die Lithium-Ionen-Akkus schon bald weltweit knapp werden könnte. Hinzu kommt, dass das Isotop Lithium-6 nur gut sieben Prozent des Lithiums ausmacht, der Rest ist Lithium-7.
Laut Schätzungen von ITER wären für 10.000 Fusionskraftwerke mit je einem Gigawatt Stromerzeugung jährlich rund 5.000 Tonnen Lithium-6 nötig. Die gesamte Weltproduktion an Lithium beider Isotope zusammen lag im Jahr 2019 bei geschätzt 77.000 Tonnen. Ob der zusätzliche Bedarf für das Tritium-Breeding auch angesichts der großen Konkurrenz um diesen Rohstoff noch gedeckt werden kann und rentabel ist, bleibt abzuwarten.