Urzeitliche Kreativität: In Tibet haben Archäologen 169.000 bis 226.000 Jahre alte Hand- und Fußabdrücke entdeckt, die offenbar nicht durch Zufall entstanden sind. Diese Spuren sind nicht nur das früheste Zeugnis der menschlichen Präsenz in Tibet, sie könnten auch die älteste Kunst der Welt sein. Denn ihre Form und Anordnung deutet darauf hin, dass sie von Kindern absichtlich in den feuchten Schlamm gedrückt wurden, wie das Team berichtet.
Schon die frühesten Vertreter unserer Art schufen Kunst in Form von Höhlenmalereien, Handabdrücken oder Felsritzungen. Davon zeugt rund 45.000 Jahre alte Felskunst in Spanien und Frankreich, aber auch auf der Insel Sulawesi. Möglicherweise drückte sogar schon der Neandertaler seine Kreativität durch Handabdrücke und abstrakte Muster aus, wie rund 64.000 Jahre alte Farbspuren in spanischen Höhlen nahelegen.
Hand- und Fußabdrücke im Travertin
Noch weit ältere Zeugnisse früher Kreativität könnten nun David Zhang von der Universität Guangzhou und seine Kollegen in Quesang auf dem tibetischen Hochland entdeckt haben. In diesem rund 80 Kilometer nordwestlich von Lhasa liegenden Gebiet gibt es zahlreiche hydrothermale Quellen, die von zu verschiedenen Zeiten abgelagertem Travertin umgeben sind. Im porösen Kalkstein dieser Ablagerungen stießen die Forscher auf menschliche Spuren.
Insgesamt fünf Handabdrücke und fünf Fußabdrücke sind dort in zwei Reihen in den einst weichen Travertin eingedrückt. Aus der Größe der Spuren geht hervor, dass diese Abdrücke nicht von erwachsenen Menschen stammen, sondern von Kindern, wie das Team berichtet. Demnach hinterließ ein rund zwölfjähriges Kind die Handabdrücke und ein rund siebenjähriges die Fußspuren.
Mit Abstand älteste Menschenspuren Tibets
Das Besondere jedoch: Diese Abdrücke könnten schon 169.000 bis 226.000 Jahre alt sein, wie eine Uran-Datierung des Travertinsteins ergab. Demnach lagerte sich dieser poröse Kalkstein etwa um diese Zeit am Rand der heißen Quelle ab und war damals noch weich und komprimierbar. Die weichen Konturen der Abdrücke und das Fehlen von Werkzeugspuren sprechend dafür, dass auch die Hand- und Fußspuren zu dieser Zeit entstanden.
„Damit sind diese Abdrücke der mit Abstand früheste Beleg für eine menschliche Präsenz auf dem tibetischen Hochplateau“, berichten Zhang und seine Kollegen. Bisherigen Erkenntnissen nach ist diese gut 4.000 Meter hoch gelegene Region eine der letzten, die vor rund 10.000 Jahren vom Homo sapiens besiedelt wurde. Weit früher könnten allerdings Denisova-Frühmenschen dieses Gebiet erreicht haben, wie der Fund eines 160.000 Jahre alten Kieferknochens am Rand des Hochlands nahelegt.
„Angesichts des hohen Alters unserer Spuren könnten sie daher auch vom Denisova-Menschen stammen“, schreiben die Forscher. Weil dieser kleiner war und vermutlich andere Körperproportionen besaß, könnten die Spurenmacher dann Jugendliche oder Erwachsene gewesen sein.
Absichtlich platziert
Besonders sind die neuentdeckten Abdrücke aber noch aus einem anderen Grund: Ihre Anordnung und Position sprechen dafür, dass sie nicht zufällig beim Laufen oder Klettern entstanden sind. „Dies war damals eine rutschige, schräge Oberfläche, über die man nicht einfach drüberlaufen würde“, erkört Koautor Thomas Urban von der Cornell University in Ithaca, New York. „Und auch ein Sturz würde nicht solche Spuren hinterlassen.“
Stattdessen scheinen die säuberlich hintereinander platzierten Abdrücke absichtlich im weichen Travertin platziert worden zu sein. „Der Schöpfer der Fußabdrücke hinterließ sie in einer Abfolge und einem Muster, wie es normalerweise nicht entstehen würde“, schreiben die Archäologen. Die Ergänzung dieser Spuren durch Handabdrücke, die nur sehr selten als zufällige Spuren gefunden werden, spreche ebenfalls für eine intentionelle Platzierung.
Ausdruck spielerischer Kreativität?
Doch was war der Zweck? War es Kunst? Oder nur Spielerei? „Klar scheint, dass es keine utilitaristische Erklärung für diese Abdrücke gibt“, sagt Urban. „Stattdessen spiegeln diese Spuren etwas Spielerisches, Kreatives, vielleicht sogar Symbolisches wider.“ Die Forscher vermuten, dass die beiden urzeitlichen Kinder oder Jugendlichen diese Spuren vielleicht beim Spielen im weichen Schlamm der heißen Quellen hinterlassen haben.
„Diese jungen Menschen sahen das Material und veränderten es absichtlich. Vielleicht war es ein Zeitvertreib oder spielerisches Markieren, als wenn sie sagen wollten: Schau her, ich habe meine Handabdrücke über diese Fußspuren gesetzt“, sagt Urban. Nach Ansicht des Teams könnten die urzeitlichen Abdrücke damit eine Form der Kunst im weiteren Sinne repräsentieren. „Schließlich würden auch die meisten heutigen Eltern die kreativen Bemühungen ihrer Kinder stolz als Kunst deklarieren“, so Zhang und seine Kollegen.
Die Hand- und Fußabdrücke in Tibet könnten damit die mit Abstand älteste Kunst der Welt darstellen. Denn sie sind drei bis viermal älter als die frühesten Handabdrücke der Felsbilder auf Sulawesi oder in spanischen Höhlen. „Damit kommen der fundamentalen Frage nahe, was es eigentlich bedeutet, menschlich zu sein“, sagt Urban. (Science Bulletin, 2021; doi: 10.1016/j.scib.2021.09.001)
Quelle: Cornell University