Löchrige Artschranke: In Südostasien könnten Übertragungen neuer Coronaviren von Tieren auf Menschen häufiger vorkommen als angenommen. Jährlich rund 400.000 Infektionen mit SARS-verwandten Fledermaus-Coronaviren könnte es dort geben, wie Forscher nun auf Basis von Antikörpertests, Fledermausdaten und Modellen ermittelt haben. Weil diese Viren aber unspezifische Symptome verursachen und nicht von Mensch zu Mensch übertragbar sind, bleiben diese Infektionen unerkannt.
Fledermäuse bilden das größte Reservoir von Coronaviren im Tierreich: Weltweit tragen diese Tiere mehr als 3.000 verschiedene Coronaviren in sich – pro Tier im Schnitt 2,7 Virenarten. Besonders virenträchtig sind Studien zufolge die Fledermäuse in Südchina und den angrenzenden Regionen Südostasiens. Dort könnte es sogar schon in der Steinzeit zu einer Coronaviren-Pandemie gekommen sein. Es ist daher wohl kein Zufall, dass das Coronavirus SARS-CoV-2 und sein Vorgänger SARS in China den Artsprung auf den Menschen schafften.
Viralen Artsprüngen auf der Spur
Doch wie oft kommt ein solcher Artsprung vom Tier auf den Menschen vor? Das haben nun Cecilia Sanchez von der EcoHealth Alliance in New York und ihre Kollegen näher untersucht. Für ihre Studie glichen sie Daten zur Fledermausverteilung in Südasien mit der dortigen Bevölkerungsdichte und möglichen Überlappungszonen von menschlichen und tierischen Lebensräumen und Aktivitäten ab. Daraus ergaben sich erste Hotspots für potenziell infektionsträchtige Tier-Mensch-Kontakte.
Diese Daten ergänzte das Forschungsteam mit den Ergebnissen von stichprobenartigen Antikörpertests in einigen Gebieten Südasiens. Die dafür verwendeten Blutproben wurden schon vor Ausbruch der aktuellen Corona-Pandemie entnommen, so dass die Antikörper nicht als Reaktion auf Covid-19 gebildet wurden. Stattdessen können sie Aufschluss darüber geben, ob Menschen dieser Region möglicherweise schon früher Kontakt mit SARS-verwandten Coronaviren aus Fledermäusen hatten.
478 Millionen Menschen im Hochrisikogebiet
Das Ergebnis: Allein in Südchina und Südostasien leben 23 Fledermausarten, die SARS-verwandte Coronaviren in sich tragen. Ihre kombinierten Verbreitungsgebiete erstrecken sich über rund 4,5 Millionen Quadratkilometer. „Unsere Berechnungen nach leben rund 478 Millionen Menschen in diesem Gebiet, das vom Südosten Chinas, Thailand, Vietnam, Laos, Myanmar und Malaysia bis nach Nepal und Bhutan reicht“, schreibt das Team.
In dieser dicht bevölkerten Überlappungsregion kommt es nicht nur in Wäldern und anderen naturbelassenen Lebensräumen immer wieder zu Kontakten mit Fledermäusen oder ihrem Kot. Einige dort heimische Arten der Hufeisennasen-Fledermäuse leben auch in anthropogen beeinflussten Habitaten wie Ackerland, Plantagen oder Grünanlagen. „Diese Spezies bringen daher ein besonders Risiko des Spillovers mit sich“, konstatieren die Wissenschaftler.
400.000 unerkannte Infektionen pro Jahr
Was aber heißt das konkret für die Häufigkeit von Coronaviren-Artsprüngen? Hinweise darauf lieferten die Antikörpertests: Knapp drei Prozent der untersuchten Proben wiesen Antikörper gegen SARS-verwandte Fledermaus-Coronaviren auf. „Diese serologischen Belege deuten darauf hin, dass es in einigen Regionen eine direkte Übertragung von Fledermäusen auf Menschen gegeben hat“, erklären Sanchez und ihre Kollegen. Weil diese Antikörper zudem nur rund ein Jahr lang im Blut nachweisbar bleiben, können die Infektionen noch nicht lange zurückliegen.
Das aber bedeutet: Der Artsprung von Fledermaus-Coronaviren auf den Menschen könnte in Südostasien häufiger vorkommen als landläufig angenommen. Mithilfe eines Modells errechneten die Forschenden: „Im Schnitt infizieren sich unseren Schätzungen nach rund 400.000 Menschen pro Jahr in Südostasien mit SARS-verwandten Coronaviren“, so Sanchez und ihre Kollegen. Das sei eine signifikante Dunkelziffern an bisher nicht nachgewiesenen Übertragungen von Fledermausviren auf Menschen.
Noch ohne Mensch-zu-Mensch-Übertragung
Der Großteil dieser Artsprünge von Fledermausviren auf Menschen bleibt unentdeckt, weil sie kaum Folgen nach sich ziehen: „Viele dieser Virenvarianten können sich wahrscheinlich im Menschen nicht gut vermehren und machen daher kaum krank“, erklärt das Team. Ein Dorfbewohner im ländlichen China, der einige Tage unter Halsschmerzen, Husten oder anderen unspezifischen Symptomen leidet, wird vermutlich nicht extra zum Arzt gehen – vor allem wenn sich die Beschwerden von allein wieder geben.
Doch selbst wenn diese Fledermaus-Coronaviren schon so weit mutiert sind, dass sie menschliche Zellen effektiv angreifen können, fehlt ihnen meist noch der zweite Schritt: die Fähigkeit, von Mensch zu Mensch übertragen zu werden. Ähnlich wie viele Vogelgrippe-Viren können diese Erreger dadurch zwar die Menschen krank machen, die direkten Kontakt mit Fledermäusen und ihren Ausscheidungen hatten. Der infizierte Mensch kann das Virus dann aber nicht an andere weitergeben. Ein für Aufmerksamkeit der Gesundheitsbehörden sorgender Ausbruch findet daher nicht statt.
Hilfe bei Vorbeugung und Früherkennung
„Der beste Weg, um Ausbrüche und Pandemien zu vermeiden ist es, schon diese anfänglichen Artsprünge zu verhindern“, erklärt die EcoHealth Alliance in eine Statement. „Indem wir an möglichen Hotspots für diese Infektionen ansetzen, haben wir eine bessere Chance, die Kette der Übertragungen schon an ihrem Beginn zu unterbrechen.“ Denn jeder Kontakt mit dem Menschen fördert die Ausbildung von Mutationen, die den Tierviren die Anpassung an den Menschen erleichtern.
Konkret kann das Wissen um Hochrisiko-Gebiete beispielsweise dabei helfen, die Kliniken und Mediziner in diesen Regionen dafür zu sensibilisieren und entsprechend zu schulen. Aber auch die Aufklärung darüber, welche Verhaltensweisen und Orte ein besonders hohes Risiko für eine Ansteckung mit Fledermaus-Coronaviren mit sich bringen, kann vorbeugen. (MedRxiv Preprint, 2021; doi: 10.1101/2021.09.09.21263359)
Quelle: EcoHealth Alliance