Verkehrte Welt: Physiker haben in einem Material Elektronen mit negativer Masse aufgespürt. Ihre Präsenz führte dazu, dass ein Halbleiter nach Anregung mit einem roten Laser auch Peaks von blauem, energiereichem Licht abgab. Dieser Effekt deutet auf die Bildung von exotischen Excitonen hin – Paaren aus Elektronen und Elektronenlöchern. Bei diesen wurden die Elektronen besonders hoch ins Leitungsband katapultiert und erhielten eine negative Masse, wie das Team im Fachmagazin „Nature Communications“ berichtet.
Die Objekte unseres Alltags haben eine positive Masse: Sie setzen der Bewegung eine bestimmte Trägheit entgegen und wenn wir sie durch einen Impuls in Bewegung versetzen, bewegen sie sich in die Richtung, in die wir sie geschoben haben. Je mehr Masse ein Objekt oder auch ein Teilchen hat, desto mehr Energie müssen wir aufbringen, um es in Bewegung zu versetzen. Das geht aus Newtons Formel Kraft = Masse mal Beschleunigung hervor.
Beim Anschubsen rückwärts
Doch in der Quantenphysik gelten andere Regeln: Hier kann es beim Anstoßen eines Teilchens passieren, dass es sich rückwärts – gegen die Richtung des Impulses – bewegt. Möglich ist auch, dass ein Teilchen mit zunehmender Geschwindigkeit nicht mehr, sondern weniger Bewegungsenergie aufweist. Oder dass sich die Gravitationskraft zweier Partikel plötzlich umkehrt und anstoßend statt anziehend wirkt.
Hinter all dem steckt das Konzept der negativen Masse: Ein negatives Vorzeichen bei der Masse kehrt die typischen Effekte vieler Kraftwirkungen um. Das erscheint in der klassischen Physik zwar unmöglich, ist aber im Reich der Teilchen und Quasiteilchen durchaus denkbar und sogar machbar: 2017 hat ein Forscherteam beispielsweise ultrakalte Atome so manipuliert, dass sie sich auf die Quelle eines Impulses zubewegte statt in Richtung der Kraftwirkung – ihre Masse war demnach negativ.
Hochliegenden Excitonen auf der Spur
Jetzt ist es einem Physikern gelungen, Elektronen mit einer solchen negativer Masse zu beobachten. Kai-Qiang Lin von der Universität Regensburg und seine Kollegen entdeckten das Phänomen bei einem Experiment mit dem Halbleitermaterial Wolfram-Diselenid (WSe2). Wird dieses Material im ultrakalten Zustand durch Energiezufuhr angeregt, können sogenannte Excitonen entstehen – virtuelle Teilchen aus einem Elektron und einer Elektronenlücke.
Für ihre Studie haben Lin und seine Kollegen nun untersucht, ob sich solche Excitonen auf höhere Energieniveaus bringen lassen, indem man ihre Elektronen durch Laserbeschuss auf noch höhere Leitungsbänder zwingt. Der Theorie nach könnten dann nicht nur sogenannte hochliegende Excitonen (HX) entstehen, sondern im Material würde sich eine mehrschichtige Struktur aus Excitonen unterschiedlicher Energie bilden.
Um das zu testen, bestrahlten die Physiker eine einatomige Lage Wolfram-Diselenid mit einem Laser der Wellenlänge von 716 Nanometern und überwachten die Reaktion mittels optischer Spektroskopie.
Blaue Peaks als Indiz
Es zeigte sich Überraschendes: Eigentlich müsste eine solche Anregung mit rotem Licht dazu führen, dass das Material die Energie erst absorbiert und dann eine langwelligere Strahlung mit etwas geringerer Energie wieder abgibt. Doch das Gegenteil war der Fall: Der Halbleiter strahlte auch kurzwelligeres und damit energiereicheres blaues Licht aus. „Dieses hochkonvertierte blaue Licht ist als eine Reihe von zehn Peaks im Spektrum sichtbar“, berichten Lin und seine Kollegen.
Wie die Physiker erklären, sprechend die Messungen dafür, dass in dem Halbleiter tatsächlich hochliegende Excitonen entstanden sind. Das blaue Licht jedoch lässt sich nur erklären, wenn die Elektronen dieser Paare aus Elektronen und Elektronenlücken eine negative Masse aufweisen. „Die Beobachtung der alternierenden Peak-Intensitäten deutet auf eine Beteiligung von Elektronen mit negativer Masse hin“, schreibt das Team.
Stabil trotz negativer Masse
Den Angaben von Lin und seinen Kollegen zufolge können solche Excitonen trotz der negativen Masse ihrer Elektronen relativ stabil sein – zumindest 100 Femtosekunden lang. Das sei dann der Fall, wenn die Masse des Elektronenlochs positiv und größer sei als die negative Masse des Elektrons. Kombiniert mit der stufenweise Abgabe von Energie beim Zurückfallen in den Ursprungszustand führt die negative Masse dann dazu, dass blaues, energiereicheres Licht abgegeben wird.
„Wenn wir eine Analogie zur klassischen Orbitalbewegung ziehen, dann kann man sich das Verhalten des Elektrons und Elektronenlochs als zwei Körper vorstellen, die um ein gemeinsames Zentrum kreisen“, erklären die Forscher. „Dieses Zentrum liegt aber nicht zwischen den beiden Teilchen, so dass beide in die gleiche Richtung beschleunigen können.“
Ihrer Ansicht nach unterstreichen die im Experiment beobachteten Effekte, wie komplex die Excitonen-Physik in solchen Dichalkogenid-Halbleitern sein können. (Nature Communications, 2021; doi: 10.1038/s41467-021-25499-2)
Quelle: Universität Regensburg