Botanisches Mysterium: Seit 1973 gibt ein im Amazonas-Regenwald entdeckter Baum der Wissenschaft Rätsel auf, denn seine Merkmale passen in keine der bekannten Pflanzenfamilien. Erst jetzt ist es gelungen, frische Proben des Rätselbaums zu beschaffen und sie einer DNA-Analyse zu unterziehen. Das überraschende Ergebnis: Es handelt sich um eine neue Art, die trotz ihres völlig abweichenden Aussehens zu einer kleinen, aber bekannten Pflanzenfamilie gehört.
So vielfältig und artenreich die irdische Natur ist, so unbekannt sind noch viele ihrer Komponenten. Wir Menschen kennen bisher erst einen Bruchteil der Biodiversität unseres Planeten. Es ist daher kein Wunder, dass jedes Jahr tausende neuer Arten entdeckt werden – viele in entlegenen, noch weitgehend unberührten Gebieten, andere sogar vor unserer Haustür. Häufig enthüllen erst DNA-Analysen die wahre Natur dieser Tiere und Pflanzen.
Begegnung der unbekannten Art
So auch im Fall des Amazonas-Rätselbaums. 1973 stieß der Botaniker Robin Foster vom Smithsonian Tropical Research Institute bei einer Expedition in den Manu-Nationalpark in Peru mitten im Regenwald auf einen ihm unbekannten Baum. Das gut sechs Meter hohe Gewächs besaß ovale, dunkelgrün glänzende Blätter und trug winzige orangefarbene Früchte, die wie chinesische Papierlaternen geformt waren.
„Auf den ersten Blick war diese Pflanze nicht sehr ungewöhnlich, wenn man davon absieht, dass sie Merkmale gleich mehrere Pflanzenfamilien in sich vereinte“, berichtet Foster. „Normalerweise kann ich eine Pflanze schon auf den ersten Blick einer Familie zuordnen, aber bei dieser ging das einfach nicht. Sie schien zu keiner der bekannten Pflanzenfamilien zu passen.“ Foster sammelte daraufhin Proben der Pflanze, um sie zuhause Kollegen zeigen zu können.
50 Jahre langes Rätselraten
Doch auch die Experten waren ratlos – und blieben es fast 50 Jahre lang. „Ich versuchte die Pflanze zu identifizieren, indem ich winzigste Details analysierte – ich kochte sogar die Ovarien der Blüten, um die Pollen zu fotografieren. Aber trotz alledem blieb sie ein Rätsel“, sagt Nancy Hensold, Botanikerin am Field Museum in Chicago. Weil der Amazonasbaum nicht einmal einer Familie zugeordnet werden konnte, blieb er namenlos und die getrockneten Proben blieben fast 50 Jahre im Museum liegen.
Jetzt hat eine neue Studie endlich Licht ins Dunkel gebracht. Nachdem eine DNA-Analyse am getrockneten Pflanzenmaterial gescheitert war, baten Hensold und ihr Team die im Manu-Nationalpark arbeitende Wissenschaftlerin Patricia Álvarez-Loayza um Hilfe und frische Proben des Rätselbaums. Mit diesen gelang es nun erstmals, das Erbgut der Pflanze zu analysieren – mit überraschenden Ergebnissen.
DNA enthüllt überraschende Zugehörigkeit
„Als ich erfuhr, zu welcher Familie dieser Baum gehören sollte, war ich geschockt. Ich konnte es einfach nicht glauben und war fest davon überzeugt, das die Probe kontaminiert worden sein muss“, berichtet Hensold. Denn den Genanalysen nach sollte der Rätselbaum zur Familie der Picramniaceae gehören. Diese nur 46 Arten umfassende Gruppe kleiner Bäume und Sträucher kommt nur in der Neuen Welt vor, besitzt in Trauben oder Rispen stehende Blüten und beerenartige Früchte.
Doch weder die Blüten noch die Früchte des Rätselbaums schienen zu den Merkmalen dieser Familie zu passen, wie auch der Picramniaceae-Experte Wayt Thomas vom Botanischen Garten New York zunächst dachte: „Als ich diese Proben schaute, war meine erste Reaktion: What the heck? Diese Pflanze sah völlig anders aus als der Rest dieser Familie“, sagt Thomas. Erst als er die winzigen, nur zwei bis drei Millimeter langen Blüten näher untersuchte, traten einige Gemeinsamkeiten zutage.
„Rätsel des Manu“
Nach fast 50 Jahren ist damit das Geheimnis des Rätselbaums aus dem peruanischen Amazonas gelüftet: Er gehört zur kleinen Familie der Picramniaceae, ist aber eine ganz neue Art. Das Forschungsteam haben das Gewächs Aenigmanu alvareziae getauft – Aenigmanu bedeutet „Rätsel des Manu“ und der Artname ehrt die Forscherin, die die Proben für die DNA-Proben aufgespürt und gesammelt hat.
Nach Ansicht der Wissenschaftler illustriert dieser Fall, wie wenig wir noch über die irdische Pflanzenwelt wissen: „Pflanzen sind insgesamt noch zu wenig erforscht – das gilt besonders für tropischen Pflanzen und in noch stärkerem Maße für Pflanzen des Amazonasgebiets“, sagt Foster. „Dabei sind Pflanzen die Basis für alles, was in diesen Regionen lebt, und daher eigentlich das Wichtigste.“ (Taxon, 2021; doi: )
Quelle: Field Museum