Überraschend anders: Wenn wir als Fußgänger unseren Weg durch die Stadt suchen, wählen wir unsere Route nach anderen Kriterien als gedacht, wie eine Studie enthüllt. Demnach bevorzugen wir nicht den kürzesten Weg, sondern die Route, auf der wir möglichst wenig von der direkten Richtung auf unser Ziel abweichen. Damit nutzt der Mensch eine ähnliche Kompromiss-Lösung wie die meisten Tiere. Diese Strategie erklärt auch, warum wir auf dem Rückweg oft anders gehen als auf dem Hinweg.
Ob der Schulweg, der Weg zum Supermarkt oder die Route zur nächsten U-Bahnstation: Dank unseres Orientierungssinns finden wir solche häufig besuchten Ziele meist wie im Schlaf – wir müssen nicht lange darüber nachdenken, auf welcher Route wir am besten dorthin gelangen. Unsere mentalen Karten und Landmarken auf dem Weg helfen uns, selbst durch den Großstadtdschungel effektiv zu navigieren.
Wonach wählen wir unsere Routen?
Doch nach welchen Kriterien suchen wir aus, auf welchen Weg wir in Ziel in der Stadt ansteuern? Meist bieten sich beim Blick auf einen Stadtplan mehrere mögliche Routen-Alternativen an. Aber welche wählen wir? Die Kürzeste? Die Bequemste? Oder entscheiden wir einfach nach Zufall? Genau das haben nun Christian Bongiorno vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) und seine Kollegen näher untersucht.
Dafür wertete das Team einen anonymisierten Datensatz von GPS-Handydaten aus, die die Wege von mehr als 14.000 Fußgängern in Boston und Cambridge über ein Jahr hinweg protokollierten. Insgesamt beinhalteten die Daten gut 550.000 zurückgelegte Wege. Das ermöglichte es den Forschenden mithilfe von statischen Analysen zu ermitteln, wie optimal diese Routen im Hinblick auf den kürzesten möglichen Weg zum Ziel waren.
Anders als Google Maps und Co
Es zeigte sich: In den meisten Fällen folgten die Fußgänger nicht dem kürzesten Weg zum Ziel. Stattdessen wichen sie von dieser optimalen Route ab. „Dadurch unterschied sich die Mehrheit der menschlichen Routen in unserem Datensatz substanziell von den Routen, die Google Maps für diese Wege vorschlug“, berichten Bongiorno und sein Team. Je weiter das Ziel dabei entfernt lag, desto deutlich waren die Abweichungen vom kürzesten Weg.
Aber warum? Bei näherer Analyse fiel den Wissenschaftler eine auffallende Gemeinsamkeit der untersuchten Fußgänger-Routen auf: „Die Routen folgten nicht dem kürzesten Weg, sondern einem, der die Richtungsabweichung vom Ziel minimierte“, erklärt Bongiornos Kollege Paolo Santi. Konkret bedeutet dies: Wenn wir durch die Stadt navigieren, wählen wir unwillkürlich die Route, bei der wir anfangs möglichst genau auf unser Ziel zusteuern und auch im Wegverlauf möglichst geringe Winkelabweichungen von der Zielrichtung durchlaufen müssen.
Pointiest Path – die Richtung ist entscheidend
Unser Gehirn scheint uns demnach eine unbewusste Vorliebe für einen scheinbar direkten, zielgerichteten Weg mitzugeben. Selbst wenn ein Abbiegen und damit ein vorübergehendes stärkeres Abweichen von der Zielrichtung eigentlich kürzer wäre, meiden wir meist solche Routen. „Die Richtung auf das Ziel ist offenbar der Haupttreiber für die Planung unserer Wege“, erklären Bongiorno und sein Team. Sie tauften diese Art der Navigation daher den „pointiest Path“ – zu deutsch: den am stärksten auf das Ziel zeigenden Weg.
Diesen Trend zur Vermeidung starker Richtungsabweichungen konnten die Forschenden nicht nur bei den Testpersonen aus der verwinkelten Altstadt von Boston beobachten. Auch in einem zweiten GPS-Datensatz, der Fußgänger-Routen im rechtwinklig angelegten San Francisco nachzeichnete, folgten die Menschen diesem Prinzip. „Basierend auf den Daten von tausenden Fußgängern scheint klar: Der Mensch ist kein optimaler Navigator“, sagt Seniorautor Carlo Ratti vom MIT. Verglichen mit Google Maps und anderen Navigationshilfen wählen wir zwar einen relativ kurzen, aber eben nicht den kürzesten Weg zum Ziel.
Evolutionärer Kompromiss
In einem Modell ließ sich diese Routenplanung am besten durch eine vektorbasierte Navigation rekonstruieren. Das bedeutet, dass wir unsere Art der Wegewahl mit den meisten Tieren gemeinsam haben – Spezies von der Ameise zum Menschenaffen neigen ebenfalls zu dieser vektorbasierten Routenplanung. Und ähnlich wie bei unseren tierischen Verwandten ist der Grund für diese auf den ersten Blick nicht optimale Navigation ein neuronaler Kompromiss:
„Die vektorbasierte Navigation zeigt zwar nicht den kürzesten Weg, ist aber nahe genug dran und einfacher zu ermitteln“, erklärt Seniorautor Carlo Ratti vom MIT. Sie scheint sich daher im Laufe der Evolution als der neuronal sparsamere Weg bewährt zu haben. „Dieser Kompromiss ermöglicht es unserem Gehirn, die einsparte Rechenleistung für andere Dinge zu nutzen – vor 30.000 Jahren war dies beispielsweise das Entkommen vor einem Löwen, heute ist es eher die Frage, wie ich einem SUV ausweichen kann“, so Ratti.
Warum der Rückweg oft anders ist
Interessant auch: Die von den Forschern entdeckte Art der Navigation erklärt auch, warum viele von uns für Hin- und Rückweg leicht unterschiedliche Wege wählen: Weil wir nicht schon zu Anfang der Route von der Zielrichtung abweichen wollen, modifizieren wir unsere Routen entsprechend. (Nature Computational Science, 2021; doi: 10.1038/s43588-021-00130-y)
Quelle: Massachusetts Institute of Technology