Medizin

Biomaterial repariert Rückenmarks-Schäden

Bioaktive Nanofasern fördern die Nervenheilung und lassen gelähmte Mäuse wieder laufen

Nerv
Ein bioaktives Gerüst aus Nanofasern lässt die durchtrennten Nervenbahnen einer Maus wieder nachwachsen (rot).© Samuel I. Stupp Laboratory/ Northwestern University

Gegen Lähmungen: Forscher haben ein bioaktives Material entwickelt, das das Wachstum von Nerven fördert – und selbst schwere Rückenmarksverletzungen heilen könnte. Bei Mäusen gelang es damit bereits, gelähmte Tiere wieder zum Laufen zu bringen. Kern der Therapie sind peptidbasierte Nanofasern, die nach der Injektion ein vernetztes Stützgerüst um den geschädigten Nerv bilden und wachstumsfördernde Botenstoffe abgeben, wie das Team im Fachmagazin „Science“ berichtet.

Anders als viele andere Körpergewebe besitzen Nerven und Rückenmark nur eine begrenzte Fähigkeit zur Selbstheilung: Werden sie vollständig durchtrennt, wachsen sie nicht mehr zusammen und eine Lähmung ist die Folge. Ein Grund dafür ist der Einfluss der extrazellulären Matrix, die die Nervenzellen umgibt. Die spezielle Mischung aus gerüstbildenden Nanofasern und Botenstoffen grenzt zwar die Schäden ein, verhindert aber gleichzeitig das Nachwachsen der Nervenfasern, der Axone.

Auf der Suche nach einer Therapie für Rückenmarksverletzungen und Nervenschäden versuchen Wissenschaftler, diese Wachstums-Blockade auf verschiedene Weise zu umgehen. Einige Ansätze nutzen dafür injizierte Wachstums-Botenstoffe und elektrische Stimulation, andere setzten auf eine Gentherapie oder Stammzellen.

Bioaktive Nanofasern als Therapiehelfer

Jetzt hat sich eine weitere Therapiemethode als wirksam erwiesen – zumindest bei Mäusen. Das Team um Zaida Alvarez von der Northwestern University in Chicago entwickelte dafür ein Material aus bioaktiven Nanofasern, das gleich zwei Funktionen der extrazellulären Matrix übernimmt: Es bildet ein Stützgerüst um den geschädigten Nerv und setzt wachstumsfördernde Botenstoffe frei. Erste Vorstufen solcher Nanofasern hatte bereits 2019 eine deutsch-britische Forschergruppe vorgestellt.

Konkret besteht das neue Biomaterial aus Peptid-Amphiphilen – synthetischen Peptid-Molekülen, die sich nach Injektion selbstorganisiert zu einem Netz aus Nanofasern zusammenlagern. Spritzt man sie an einen verletzten Nerv, bilden sie dadurch um ihn herum ein extrazelluläres Stützgerüst. Der Clou jedoch: Die als Grundbausteine verwendeten Peptide sind bioaktiv und interagieren mit Rezeptoren der neuronalen Zellen und ihrer Hilfszellen.

Doppelte Signalwirkung

Liegt das bioaktive Material am Nerv, entfaltet es dadurch eine doppelte Signalwirkung: Zum einen wirkt es wie ein Wachstumsfaktor und regt die durchtrennten Nervenfortsätze zur Regeneration an. Das führt dazu, dass die Axone wachsen. Zum anderen wirkt das supramolekulare Netzwerk auf Hilfszellen in der Nervenumgebung und fördert die Neubildung von Myelin und Blutgefäßen an der verletzten Stelle.

„Die Signalstoffe imitieren die Wirkung natürlicher Proteine“, erklärt Alvarez. „Während Proteine aber eine kurze Halbwertszeit haben und teuer herzustellen sind, sind unsere synthetischen Signale kurze, modifizierte Peptide, die – zu tausenden miteinander verknüpft – wochenlang die erwünschte Bioaktivität liefern.“ Erst nach etwa zwölf Wochen wird das bioaktive Stützgerüst vom Körper ohne Nebenwirkungen abgebaut.

50-fach verbessertes Nervenwachstum

Wie gut diese Nanofaser-Therapie in der Praxis wirkt, haben Alvarez und ihr Team bei gelähmten Mäusen mit frisch verletztem Rückenmark getestet. Dafür injizierten sie den Tieren verschiedene Varianten ihrer bioaktiven Peptid-Amphiline oder eine Kochsalzlösung als Kontrolle und ermittelten über Fluoreszenzmarker, Gangtests und weitere Analysen, ob und wie gut sich das Nervengewebe regenerierte.

Das Ergebnis: „In der Kontrollgruppe beobachteten wir so gut wie kein Nachwachsen der Axone an der verletzten Stelle“, berichtet das Team. Bei den Mäusen, die den Wirkstoff erhalten hatten, zeigten sich dagegen schon rund eine Woche nach Injektion erste Veränderungen: Die durchtrennten Enden der Nervenfortsätze begannen wieder zu wachsen. Je nach Zusammensetzung des Nanofaser-Gerüsts war das Axon-Wachstum zwei bis 50-Mal größer als in der Kontrollgruppe, wie die Forschenden berichten.

Maus
Kontrollmaus mit gelähmten Hinterbeinen und behandelte Maus vier Wochen nach der Injektion. © Samuel I. Stupp Laboratory/ Northwestern University

„Tanzende“ Moleküle lassen Mäuse wieder laufen

Als entscheidend für die Wirkung erwies sich dabei die Beweglichkeit der Signalstoffe innerhalb des Nanofasergerüsts: „Indem wir die Moleküle beweglich machen und sie ‚tanzen‘ lassen, können sie effizienter mit den Rezeptoren wechselwirken“, erklärt Seniorautor Samuel Stupp von der Northwestern University.

Die Wirkung der „tanzenden“ Moleküle zeigte sich auch im Verhalten der Mäuse: Während ihre Artgenossen aus der Kontrollgruppe weitgehend gelähmt blieben, begannen die mit dem bioaktiven Material behandelten Tiere schon eine Woche nach der Injektion bereits wieder ihre Beine zu bewegen. Nach drei Wochen konnten die mit der wirksamsten Variante behandelten Mäuse sogar wieder halbwegs laufen, wie Alvarez und ihre Kollegen berichten.

Auch beim Menschen wirksam?

Nach Ansicht des Forschungsteams eröffnet dieser Ansatz damit neue Möglichkeiten, die Nervenheilung zu fördern und anhaltende Lähmungen zu verhindern – möglicherweise auch beim Menschen. „Unser Ziel ist es, eine Therapie zu finden, die Personen davor bewahrt, nach einer Verletzung oder einer Erkrankung gelähmt zu werden“, sagt Stupp. Wenn es gelingen würde, auch durchtrennte Nervenbahnen beim Menschen mithilfe der neuen Nanofaser-Gerüste zu reparieren, könnte dieses Ziel erreicht werden.

Noch allerdings steht die Forschung an den bioaktiven Nanonetzen erst ganz am Anfang. Dennoch sehen Stupp und sein Team in diesen supramolekularen Gerüsten eine vielversprechende Möglichkeit, künftig Nervenschäden zu heilen. (Science, 2021; doi: 10.1126/science.abh3602)

Quelle: Northwestern University

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