Ähnlich rätselhaft wie die Herkunft, Sprache und Regierungsform von Teotihuacan sind auch viele Aspekte ihrer Religion. Die großen Tempel, aber auch Reliefs, Steinfiguren und Wandgemälde legen nahe, dass Gottheiten und Rituale eine wichtige Rolle für die Teotihuacanos spielten und dass sie ähnlich wie andere Kulturen ihrer Zeit mehrere Götter verehrten. Einige davon, wie die gefiederte Schlange Quetzalcoatl und der Regengott Tlaloc, wurden später von den Azteken und anderen Nachfolgekulturen übernommen.
Gräber in der Mondpyramide
Ob die Bewohner von Teotihuacan ihren Göttern jedoch auch Menschenopfer darbrachten, war lange Zeit unklar. Mehr Aufschluss brachte erst ein Projekt, bei dem Archäologen vor rund 20 Jahren begannen, einen Tunnel ins Innere der Mondpyramide vorzutreiben. Dabei zeigte sich, dass das Bauwerk mindestens siebenmal erweitert und vergrößert worden war – die Außenhüllen der einzelnen Phasen waren wie Matrioschka-Puppen ineinander geschachtelt. „Bei jedem Ausbauschritt wurde das Gebäude von einem neuen überbaut, so dass das alte Bauwerk diesem als Fundament diente“, erklärt Saburo Sugiyama von der University of Arizona.
Das Überraschende jedoch: In fast jeder dieser Ausbauphasen fanden die Forscher zeremonielle Gräber von jeweils drei bis 18 reich ausgestatteten Toten. Diese trugen teilweise kunstvollen Jade- und Perlenschmuck und waren von Grabeigaben im Form von verzierten Steinfiguren, Gefäßen, Obsidianmessern und organischen Resten umgeben. Nahezu allen Gräbern waren zudem zahlreiche Tiere als Opfergaben beigefügt.
Gefesselt und enthauptet
Die rituell in der Mondpyramide bestatteten Männer waren jedoch weder eines natürlichen Todes gestorben, noch freiwillig. Bei fast allen waren die Hände hinter dem Rücken gefesselt und ein Großteil der Toten war geköpft worden. „Ob sie vor Ort getötet wurden oder an einem nahegelegenen Ort ist nicht klar, in jedem Falle aber war dieses Ritual eines der furchterregendsten Akte, die je in der mittelamerikanischen Archäologie dokumentiert worden sind“, erklärt Sugiyama. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Zeremonie ein schreckliches Blutvergießen war.“
Auch unter anderen Pyramiden und unter der Cuidadela von Teotihuacan haben Archäologen seither ähnliche Menschenopfer entdeckt. Oft waren diese Toten enthauptet, teilweise waren die Überreste gemeinsam mit Tierknochen arrangiert. Archäologen schließen daraus, dass solche Menschenopfer fester Bestandteil von Zeremonien zur Einweihung oder dem „Richtfest“ neuer Bauten und Bauabschnitte waren. „Ihre Bestattung war offensichtlich ein hochgradig ritueller Akt, der den Ausbau solcher Monumente begleitete“, sagt Sugiyama.
Wer diese Toten waren und woher sie kamen, ist weitgehend unbekannt. Auffallend ist allerdings, dass einige der in der Mondpyramide Geopferten Jadeschmuck trugen, wie er bei hochrangigen Maya üblich war. Darunter sind Ohrspangen, Perlen und zwei große Brustpanzer. „Wir wissen, dass diese Objekte in der Mayagesellschaft oft ein Symbol für Herrscher oder royale Familienmitglieder waren“, erklären die Archäologen. „Zwar müssen wir die Knochen und Objekte noch weiter untersuchen, aber alles deutet darauf hin, dass es eine Verbindung zwischen der herrschenden Klasse von Teotihuacan und den Königsfamilien der Maya gab.“
Teotihuacan-Bauten in Tikal
Tatsächlich gibt es einige Hinweise darauf, dass Teotihuacan und die rund 800 Kilometer weiter südlich entstehenden Maya-Reiche in Kontakt standen. Dafür sprechen nicht nur das Mayaviertel in Teotihuacan und die möglicherweise zu den Maya gehörenden Menschenopfer – auch in der Mayastadt Tikal in Guatemala haben Archäologen um Stephen Houston von der Brown University kürzlich Zeugnisse dafür entdeckt.
„Was wir für einige natürliche Hügel gehalten hatten, entpuppte sich als Bauwerk in Form der Ciudadela von Teotihuacan“, berichtet Houston. Mitten in Tikal hatte jemand eine verkleinerte Kopie dieses Palastkomplexes mitsamt Mauer, Palastkomplex und Tempelpyramide errichtet. Anders als die meist aus Kalkstein bestehenden Mayabauten war dieser Komplex aus Lehmziegeln erbaut und zeigte die gleichen typischen Fassadenelemente und Ausrichtung wie die Gebäude in Teotihuacan.
„Dieser architektonische Komplex scheint von Menschen aus Teotihuacan oder zumindest unter ihrer Leitung gebaut worden zu sein“, sagt Houston. „Möglicherweise handelte es sich um eine Art Botschaftsgebäude, vielleicht aber auch um einen Komplex, der der Überwachung und Besatzung diente.“ Für Letzteres könnten auch Projektilspitzen aus Obsidian und Feuerstein sprechen, die in großer Zahl rund um diesen Baukomplex gefunden wurden.
Erst Partner, dann Feind
Die Forscher vermuten, dass sich die anfangs noch friedlichen, von gegenseitigem Handel geprägten Beziehungen der beiden Reiche mit der Zeit drastisch verschlechterten. Dazu passt, dass Tikal nach den Aufzeichnungen der Maya im Jahr 378 von Teotihuacan erobert wurde. Dabei soll ein General der fernen Metropole mit dem Namen „Geboren aus dem Feuer“ nach Tikal marschiert, den dortigen König „Jaguarpfote“ getötet und seinen eigenen Sohn als neuen Herrscher inthronisiert haben.
Die abrupte Verschlechterung der Beziehungen ist auch in Teotihuacan ablesbar: Kurz vor der Eroberung von Tikal wurden im dortigen Mayaviertel mehrere von reichen Mayas bewohnte Villen verwüstet und zerstört. In unmittelbarer Nähe entdeckten Archäologen eine Grube, die mit teils brutal zerschmetterten menschlichen Gebeinen gefüllt war. Sie vermuten, dass es sich dabei um die Überreste der Villenbewohner handelte. Offenbar erstreckten sich die Aggressionen Teotihuacans gegen die Maya demnach nicht nur auf deren Territorien und Herrscher, sondern auch auf Angehörige dieser Kultur im eigenen Land.
Was jedoch diesen Wandel in den Beziehungen der Maya und Teotihuacan verursachte, darüber können auch die Archäologen bislang nur spekulieren.