Polygyn und patriarchalisch: Ein 5.700 Jahre altes Kammergrab in England hat Archäologen einen einzigartigen Einblick in steinzeitliche Familienverhältnisse verschafft. DNA-Analysen enthüllen, dass 27 der 35 Toten miteinander verwandt waren und von nur einem Mann und seinen vier Frauen abstammen. Während aber mehrere Generationen seiner männlichen Nachkommen im Grab liegen, fehlen die Überreste der erwachsenen Töchter und Enkelinnen.
Wie lebten unsere Vorfahren in der Steinzeit – und welche Art von Familien bildeten sie? Lange blieben die Verwandtschaftsverhältnisse jahrtausendealter Toter unbekannt, Archäologen konnten oft nur spekulieren, ob gemeinsam begrabene Personen auch verwandt waren. Doch inzwischen liefern neue Verfahren der DNA-Analysen nähere Informationen. Sie haben beispielsweise enthüllt, dass die Eliten der Steinzeit Inzest praktizierten, aber auch, dass schon vor 4.600 Jahren Kleinfamilien in Deutschland gemeinsam bestattet wurden.
Steinzeitgrab mit gut 40 Toten
Jetzt liefert ein neolithisches Kammergrab im englischen Hazleton North weitere Einblicke in das Familienleben der Jungsteinzeit. Diese vor rund 5.700 Jahre errichtete Grabanlage besteht aus einem langgestreckten Hügel aus Steinen, in dem von Norden und Süden jeweils ein Gang zu einer zu L-förmigen Grabkammer führt. In diesen Kammern wurden die sterblichen Überreste von mindestens 41 Personen bestattet.
Um herauszufinden, wer diese Menschen waren und in welchem Verhältnis sie zueinander standen, haben Chris Fowler von der Newcastle University und seine Kollegen DNA aus Zähne und Knochen von 35 dieser Toten isoliert und einer Vergleichsanalyse unterzogen. „Noch vor ein paar Jahren konnte sich kaum jemand vorstellen, dass wir jemals in der Lage sein würden, neolithische Verwandtschaftsstrukturen rekonstruieren zu können“, sagt Koautor Ron Pinhasi von der Universität Wien.
Nachkommen eines Stammvaters mit vier Frauen
Die DNA-Vergleiche ergaben, dass 27 der 35 im Kammergrab bestatteten Toten miteinander verwandt waren – sie gehörten zu fünf Generationen einer Familie. Das ermöglichte es dem Forscherteam, erstmals einen steinzeitlichen Familienstammbaum aufzustellen. Dabei zeigte sich, dass die miteinander verwandten Toten alle von einem Mann abstammten, aber von vier verschiedenen Frauen.
„Wir können nicht feststellen, ob es sich hierbei um eine serielle Monogamie handelte oder um eine Polygynie“, betone die Wissenschaftler. In jedem Fall aber zeugte der Stammvater dieser Familiengruppe Nachwuchs mit vier verschiedenen Frauen. Auch bei fünf weiteren Männern dieser Großfamilie fanden sich genetische Hinweise auf Nachkommen von mehrere Partnerinnen. Das könnte darauf hindeuten, dass dies in dieser jungsteinzeitlichen Gesellschaft üblich war.
Abstammung bestimmt Bestattungsort
Interessant auch: Die Zugehörigkeit zu einer der vier Hauptlinien der Großfamilie spiegelt sich in der Platzierung der Gebeine wider. Denn die Nachkommen der vier Stammmütter bildeten im Tode räumlich getrennte Gruppen. „Die beiden Grabhälften wurden dafür genutzt, um die sterblichen Überreste von jeweils zwei Untergruppen derselben Familie zu bestatten“, berichtet Fowler. „Das ist von weitreichender Bedeutung, weil es darauf hindeutet, dass die Platzierung der Toten uns auch in anderen neolithischen Gräbern Hinweise auf die Verwandtschaft geben kann.“
Auffällig ist außerdem, dass männliche Nachkommen stets mit ihren Vätern und Brüdern gemeinsam begraben wurden. „Das liefert den ersten direkten Beweis dafür, dass die patrilineare Abstammung bestimmte, wer in einem jungsteinzeitlichen Grab mit wem bestattet wurde“, erklären die Forscher. Dabei reichte die Verbindung über die väterliche Linie über die Blutverwandtschaft hinaus: Auch einige Stiefsöhne männlicher Familienmitglieder waren mit dem Clan begraben.
Patrilinear bis ins Grab
Bei den Frauen sah es allerdings anders aus: Sie waren im Grab stark in der Minderheit – nur neun der 35 untersuchten Toten waren weiblich. Zu diesen gehörten zwei im Kindesalter gestorbene Mädchen, sowie mehrere nicht verwandte Frauen. Nach weiblichen erwachsenen Nachkommen suchte man jedoch vergeblich. „Das deutet darauf hin, dass auf diese Weise eine Inzucht vermieden wurde“, so Fowler und seine Kollegen.
Die Forscher vermuten daher, dass die erwachsenen Töchter die Familiengruppe verließen und sich einer anderen Gruppe anschlossen. Auch dies spricht für eine patrilineare Gesellschaft. Demnach gehörten erwachsene Frauen zur Stammeslinie ihres Partners und wurden vermutlich auch mit ihm und seinen Nachkommen begraben. „Unsere Ergebnisse zeigen damit, dass die patrilineare Abstammung damals eine wichtige Rolle für die sozialen Beziehungen spielte“, schreiben die Wissenschaftler.
Inwieweit dies auch für andere Gemeinschaften der Jungsteinzeit galt, müssen nun weitere Untersuchungen dieser Art auch in anderen Gräbern und Regionen zeigen. „Dies ist erst der Anfang. Es gibt in Großbritannien, Frankreich und anderen Regionen noch viel zu entdecken“, sagt Pinhasi. (Nature, 2021; doi: 10.1038/s41586-021-04287-4)
Quelle: Newcastle University