Chemie

„Übersehene“ Schadstoffe in der Stadtluft

Abbauprodukte von Flammschutzmitteln sind oft giftiger als ihre Ausgangs-Chemikalien

London
Die Luft der meisten Großstädte – hier London – ist mit schädlichen Abbauprodukten vn Flammschutzmitteln kontaminiert. © Xavierarnau/ Getty images

Unsichtbare Gefahr: Die Abbauprodukte gängiger Flammschutzmittel sind in der Stadtluft nicht nur allgegenwärtig, sie sind auch größtenteils gesundheitsschädlicher als ihre Ausgangsstoffe, wie nun eine Studie enthüllt. Demnach sind bis zu 89 Prozent dieser Organophosphate für Mensch und Tier giftig und zeigen hormonähnliche Wirkung. Außerdem sind sie langlebiger als ihre Ausgangsprodukte und reichern sich in Lebewesen an, wie die Forscher in „Nature“ berichten.

Sie stecken in Smartphones und anderen Elektrogeräten, in Polstermöbeln, Dämmstoffen und der Büroausstattung: Chemische Flammschutzmittel wie die Organophosphate TCEP, TCPP oder TDCPP kommen in unzähligen Gegenständen und Produkten vor – sind aber wegen ihrer potenziell gesundheitsschädlichen Wirkung umstritten. So gilt TDCPP als potenziell krebserregend, andere Flammschutzmittel stören den Hormonhaushalt. Weil diese Mittel aus festen Objekten ausdünsten, gelangen sie in die Luft und können eingeatmet werden.

TCDPP
Das Organophosphat-Flammschutzmittel Tris(1,3-dichlorisopropyl)phosphat (TCDPP) ist vor allem in Schaumstoffen und Dämmstoffen enthalten, steht aber im Verdacht, krebserregend zu sein. © gemeinfrei

„Blinder Fleck“ bei den Abbauprodukten

Doch was passiert dann mit diesen Chemikalien? „Bisher beruhen regulatorische Richtlinien fast nur auf den Eigenschaften der Ursprungschemikalien“, erklären Qifan Liu von der kanadischen Umweltbehörde und seine Kollegen. Doch unter dem Einfluss des Sonnenlichts und anderer Luftschadstoffe oxidieren die Flammschutzmittel und wandeln sich in verschiedenste Abbauprodukte um. „Dadurch sind Menschen und Ökosysteme einem Gemisch aus den Ausgangsstoffen und ihren Abbauprodukten ausgesetzt“, erklären die Forscher.

Welche Produkte aus den Organophosphaten entstehen, wird aber bislang kaum erfasst und auch ihre Schadwirkung ist weitgehend unbekannt. Für die fünf häufigsten in der Luft vorkommenden Organophosphat-Flammschutzmittel und ihre Produkte haben Liu und sein Team dies nun nachgeholt. In einem Laborexperiment setzten sie die Stoffe dafür zunächst atmosphärischen Bedingungen und UV-Licht aus und bestimmten dann mittels Massenspektrometrie und Chromatografie die Reaktionsprodukte.

Die Analysen ergaben, dass sich aus den fünf Flammschutzmitteln unter normalen Atmosphärenbedingungen 27 verschiedene Reaktionsprodukte bildeten.

Derivate weltweit in Stadtluft nachweisbar

Auf Basis des chemischen Fingerabdrucks dieser Chemikalien untersuchten Liu und sein Team dann die Luft in 18 Megacities rund um die Welt. Dafür nahmen sie von 2018 bis 2019 Luftproben zu verschiedenen Jahres- und Tageszeiten. Vertreten waren New York, Tokio und London ebenso wie Istanbul, Kairo, Buenos Aires oder Neu-Delhi.

Das Ergebnis: In der Stadtluft der Metropolen wiesen die Forscher 19 verschiedene Flammschutzmittel-Derivate nach. Zehn davon kamen in allen Städten in teilweise hoher Konzentration vor. „Die Konzentration dieser zehn Reaktionsprodukte ist in London und New York mit rund 12.000 Pikogramm pro Kubikmeter Luft am höchsten“, berichten Liu und seine Kollegen. Dies entspreche der dort auch besonders hohen Konzentration der Ausgangs-Chemikalien.

„Dies ist die erste dokumentierte Messung von Umwandlungsprodukten der Organophosphat-Flammschutzmittel in der Luft“, so die Wissenschaftler. „Wir vermuten jedoch, dass sie nur die Spitze eines Eisbergs darstellen, da in der Atmosphäre sicher noch weit mehr Umwandlungsprodukte gängiger Chemikalien präsent sind.“

Langlebiger und mit höherer Bioakkumulation

Doch wie schädlich sind diese Abbauprodukte der allgegenwärtigen Flammschutzmittel? Um das herauszufinden, schauten sich Liu und sein Team die Molekülstrukturen der Derivate näher an und nutzten Modelle, um daraus auf ihre Beständigkeit in Luft und Wasser zu schließen. Mithilfe eines zweiten Modells analysierten sie, wie stark die Chemikalien in Land- und Wasserlebewesen aufgenommen und angereichert werden und wie giftig diese Abbauprodukte im Vergleich zu ihren Ausgangsstoffen sind.

Die Analysen enthüllten, dass sich die Reaktionsprodukte der Flammschutzmittel im Schnitt 2,5 Mal länger in der Umwelt halten als ihre Ausgangsstoffe. In Wasser, Boden oder Sediment werden sie zudem zehnfach langsamer abgebaut als in der Atmosphäre. Hinzu kommt: „Die Transformationsprodukte zeigen bei luftatmenden Landorganismen eine generell höhere Bioakkumulation“, berichten die Forscher. Dies liegt daran, dass diese Chemikalien hydrophiler sind und sich besonders gut an Körperflüssigkeiten binden.

Größtenteils giftiger als ihre Ausgangsstoffe

In Bezug auf die Toxizität der Flammschutzmittel-Derivate sind die Ergebnisse ebenfalls wenig positiv: Zwar sind einige von ihnen weniger schädlich für Wasserorganismen, dafür jedoch steigt ihre Toxizität für landlebende Lebewesen – und damit auch für uns Menschen. So erwiesen sich die Abbauprodukte TCPP-21 und TCDPP-14 als achtmal und 3,7-mal giftiger als ihre Ausgangsstoffe TCPP und TCDPP. Beide gelten als hormonähnlich wirkende endokrine Disruptoren.

Nach Ansicht der Wissenschaftler unterstreichen diese Resultate, wie wenig wir noch über die Abbauprodukte selbst gängiger und allgegenwärtiger Chemikalien wissen – und wie wichtig weitere Untersuchungen sind. „Wenn wir die Risiken durch kommerzielle Chemikalien bewerten wollen, müssen wir die atmosphärischen Transformationen mitberücksichtigen“, betonen sie. (Nature, 2021; doi: 10.1038/s41586-021-04134-6)

Quelle: Nature

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