Erdgeschichte

Balkanatolia – ein vergessener Kontinent

Teile Anatoliens und des Balkans bildeten bis gut 35 Millionen Jahren eine eigene Landmasse

Balkanatolia
Bis vor rund 35 Millionen Jahren bildete Balkanatolien eine eigene kleine Landmasse im Südosten Europas. © Alexis Licht und Grégoire Métais

Verlorene Welt: Bis vor gut 35 Millionen Jahren gab es zwischen Europa und Asien offenbar einen kleinen dritten Kontinent – Balkanatolia. Diese Landmasse beherbergte eine ganze eigene, exotische Lebenswelt, wie Fossilfunde nahelegen. Erst als wegen einer Eiszeit die Meeresspiegel sanken, entstanden Landbrücken nach Asien und Europa und die Tierwelten vermischten sich. Die Reste von Balkanatolia verschmolzen mit Europa und Vorderasien und bilden heute den Balkan und die Türkei.

Europa hat eine bewegte, von der Drift der Kontinente geprägte Geschichte hinter sich. Seine Landmasse ist aus mehreren Teilstücken verschmolzen, die ursprünglich Bruchstücke anderer Erdplatten waren. Noch in der Kreidezeit war Europa eine Inselwelt, die vom Rest Eurasiens durch Meeresstraßen abgetrennt war. Die anhaltende Norddrift Afrikas schuf zudem nicht nur Gebirge und das Mittelmeer, sondern ließ auch den erst kürzlich entdeckten Urzeit-Kontinent Greater Adria in der Tiefe versinken.

Bronthotherium-Zahn
Dieser fossile Zahn eines nashornähnliche Bronthotheriums belegt, dass asiatische Säugetiere schon vor der Grande Coupure nach Anatolien gelangt sein müssen. © Alexis Licht und Grégoire Métais

Der große Wandel

Einen weiteren Kontinent-Baustein Europas könnten nun Alexis Licht von der University of Washington in Seattle und ihre Kollegen identifiziert haben. Anstoß für ihre Studie waren Fossilfunde im Balkangebiet und in der Türkei, die nicht zur gängigen Sicht auf die Faunenentwicklung in Europa passten. Nach dieser waren die Tierwelt Asiens und die Westeuropas während des Eozäns bis vor 34 Millionen Jahren durch Meeresstraßen getrennt.

Dann kam der große Wandel: Plötzlich starben viele zuvor endemische Arten in Europa aus und wurden durch eine Vielfalt neu einwandernder asiatischer Wirbeltiere abgelöst, darunter viele Nagetiere und Paarhufer. Das Merkwürdige jedoch: Im Balkangebiet haben Paläontologen schon einige Millionen Jahre vor dem Faunenaustauch dieser „Grande Coupure“ Fossilien asiatischer Tiere gefunden. Einige Fossilien stammten zudem von Tieren, die weder für das damalige Westeuropa noch für Asien typisch waren.

Eine ganz eigene Lebenswelt

Auf der Suche nach einer Erklärung haben Licht und ihr Team noch einmal alle Fossilfunde vom Balkan und aus der Türkei ausgewertet und auch die geologisch-tektonische Entwicklung dieser Region rekonstruiert. Zudem stießen sie im Laufe ihrer Studie auf eine ganz neue Fossilfundstätte in Zentral-Anatolien. Dort sind die Relikte von zahlreichen Wirbeltieren aus der Zeit vor 38 bis 35 Millionen Jahre konserviert – und damit aus der Zeit unmittelbar vor der Grande Coupure.

Die Auswertungen der Funde enthüllten Überraschendes: In Südosteuropa und Kleinasien existierte damals eine ganz eigene Lebenswelt, die sich sowohl von der in Asien wie von der im Rest Europas unterschied. So lebten dort beispielsweise urzeitliche Beuteltiere und Huftiere, aber auch aus Afrika stammende Embrithopoden, eine mit Rüsseltieren und Seekühen verwandte Pflanzenfressergruppe. „Diese Säugetierfauna stellt eine einzigartige Mischung endemischer Arten dar“, berichten die Forschenden.

Balkanatolia als eigenständige Landmasse

Nach Ansicht des Team spricht dies dafür, dass der Balkan und Anatolien während des Eozäns räumlich isoliert waren. Die Landmasse, auf der beide Gebiete damals gemeinsam lagen, muss anders als bisher gedacht sowohl von Westeuropa wie von Asien getrennt gewesen sein. Licht und ihre Kollegen sehen darin eine Art vergessenen Kontinent, den sie Balkanatolia taufen.

„Wir zeigen, dass es im Eozän eine zuvor unerkannte biogeografische Provinz gab, Balkanatolia, die den östlichen und zentralen Teil der Neotethysküste bildete“, schreiben die Forschenden. „Balkanatolia bildete ein flaches Archipel aus tiefliegenden Landstrichen, das vom Rest Eurasiens isoliert war und in dem endemische und anachronistische Säugetiere lebten.“ Diese Landmasse bildete demnach Millionen Jahre lang einen eigenen kleinen Baustein des späteren Europa.

Die Forschenden vermuten, dass Balkanatolia ein Relikt des versunkenen Kontinents Greater Adria darstellt. Dieser lag vor rund 140 Millionen Jahren zwischen Afrika und Eurasien im Tethysmeer und war so groß wie Grönland. Durch die Plattentektonik wurde diese Erdplatte jedoch zusammengestaucht und teils versenkt, teils mit anderen Landmassen verschmolzen.

Landbrücken erst nach Asien, dann nach Europa

Die Isolation Balkanatolias endete erst, als sich vor rund 38 Millionen Jahren das Klima änderte und an den Polen Gletscher heranwuchsen. Der dadurch sinkende Meeresspiegel ließ am Ostrand Balkanatoliens eine Landbrücke zum Kaukasusgebiet entstehen, über die nun erste asiatische Tiere Richtung Europa zogen. „Die Fossilfunde stützen diese Kolonisierung Balkanatoliens durch asiatische Nage- und Huftiere“, berichten Licht und ihre Kollegen. „Sie bedeutete das Ende für die endemische Fauna dieser Region.“

Die Bildung der Landbrücke zwischen Balkanatolien und Asien erklärt auch, warum auf dem Balkan und in der Türkei schon vor der Grande Coupure vor 34 Millionen Jahren erste asiatische Tierarten auftauchten. Erst als dann die Meeresspiegel noch weiter absanken, fielen weitere Meeresarme trocken und die eingewanderten asiatischen Tiere konnten auch nach Westeuropa weiterziehen. Balkanatolia wurde zum Durchgangskorridor.

Im Laufe der Zeit drifte der nordwestliche Teil Balkanatoliens weiter nach Norden und verschmolz mit Resteuropa – aus ihm ging das Balkangebiet hervor. Der südliche und östliche Teil dieser urzeitlichen Landmasse blieb mit dem Kaukasus verbunden und bildete das heutige Kleinasien. (Earth Science Reviews, 2022; doi: 10.1016/j.earscirev.2022.1039)

Quelle: CNRS

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