Medizin

Neuropathie: Ursache für Überempfindlichkeit geklärt

Fehlerhafte Nervenregeneration erklärt chronische Schmerzen nach Verletzungen

Nervenfasern
Ein ungleiches Einwachsen neuer Nervenfasern in verletzte Stellen kann zu neuropathischen Schmerzen und Überempfindlichkeit führen. © whitehoune/ Getty images

Fehlgeleitete Heilung: Forschende haben eine zuvor unerkannte Ursache neuropathischer Schmerzen aufgeklärt – chronischer Schmerzen, die nach einem Nervenschaden auftreten und selbst leichte Berührungen zur Qual machen. Demnach wachsen schmerzleitende Nerven statt der vorher vorhandenen taktilen Fasern in das Wundgebiet ein. Dadurch lösen Tastreize irrtümlich Schmerzen aus, wie das Team in „Nature“ berichtet.

Wenn periphere Nerven durch Verletzungen durchtrennt oder geschädigt werden, wird der betroffene Bereich taub – Berührungen und andere Reize werden nicht mehr zum Gehirn geleitet. Doch nach einer Weile kann eine Regeneration einsetzen: Nerven aus benachbarten Bereichen wachsen in das Wundgebiet ein und das Gefühl kehrt zurück – aber auch chronischer Schmerz. Denn oft wird der Bereich überempfindlich und selbst kleinere Berührungen können starke Schmerzen auslösen.

NEurologischer Test
Bei Neuropathien sind die betroffenen Bereiche oft überempfindlich: Selbst leichte Berührungen tun weh.© kckate16/ Getty images

Erst taub, dann überempfindlich

Was diese neuropathischen Schmerzen verursacht, war bislang erst in Teilen geklärt. Ein Team um Vijayan Gangadharan von der Universität Heidelberg ist daher den Vorgängen bei der Nervenregeneration noch einmal genauer auf den Grund gegangen. Dafür fügten die Forschenden betäubten Mäusen zunächst eine Nervenverletzung am Schienbein durch. Dann beobachteten sie mithilfe unterschiedlicher Biomarker und mikroskopischer Verfahren, was bei der Regeneration geschah.

Wie erwartet war das betroffene Gebiet zunächst unempfindlich gegen jede Art der mechanischen Reizung – die zerstörten Hautnerven machten es taub. Im Laufe der folgenden Wochen kehrte das Gefühl aber nach und nach zurück und der taube Bereich wurde immer kleiner. Nach etwa 20 Wochen jedoch schlug die Heilung um: Die Mäuse reagierten nun überempfindlich auf selbst leichte Berührungen – sie litten nun unter chronischen neuropathischen Schmerzen.

Ungleiches Nachwachsen der Nervenfasern

Aber warum? Der Grund zeigte sich, als die Forschenden das Einwachsen neuer Nervenfasern in den betroffenen Bereich mitverfolgten: Während schmerzleitende Fasern relativ schnell von benachbarten Nerven aus in das Wundgebiet vordrangen und dort dichte neue Nervengeflechte bildeten, war dies bei den taktilen Nervenfasern nicht der Fall: Diese für Tastreize zuständigen Fasern regenerierten sich so gut wie gar nicht, wie Gangadharan und seine Kollegen feststellten.

Nähere Analysen enthüllten einen möglichen Grund für diese Unterschiede in der Nervenregeneration: Die feinen, neu sprießenden Ästchen der schmerzleitenden Fasern wuchsen entlang der Blutgefäße in das verletzte Gebiet ein. Sie wanden sich um die Adern wie eine Pflanze um eine Rankhilfe. „Die neu einwachsenden Nociceptoren nutzen die kleinen Blutgefäße offenbar als Gerüst „, so das Team. Die taktilen Nervenfasern können dies hingegen nicht – wenn sie überhaupt nachwachsen, dann unabhängig von den Blutgefäßen.

Schmerzfasern entern Tastkörperchen

Und nicht nur das: Wie das Team beobachtete, wuchsen die schmerzleitenden Nervenfasern auch bis in die Meißnerschen Körperchen ein – die Sensorpapillen in der Haut, die für Tastreize zuständig sind. Dadurch waren die Tastsensoren nun mit schmerzleitenden statt mit taktilen Nervenenden verbunden. Ergänzende Analysen ergaben zudem, dass die Reizschwelle bei den neu einsprießenden Fasern deutlich niedriger lag als normal.

Diese Prozesse könnten erklären, warum bei Betroffenen jeder taktile Reiz wie ein Schmerzreiz wirkt und selbst ein sanftes Streicheln oder das Gefühl von Kleidung auf der Haut Schmerzen verursachen kann. „Unsere Ergebnisse beantworten die seit Langem offene Frage, wie es zu den komplexen neuropathischen Schmerzen von Patienten beispielsweise nach Nervenquetschungen kommt“, sagt Seniorautorin Rohini Kuner von der Universität Heidelberg. „Sie zeigen die Bedeutung neuronaler Fehlentwicklungen während des Heilungsprozesses auf.“

Ganz neuer Mechanismus

Das Forschungsteam hat damit eine ganz neue Ursache für neuropathische Schmerzen entdeckt. Neben schon zuvor bekannten Anomalien bei noch intakt bleibenden taktilen Nervenfasern enthüllt ihre Studie, dass auch die ungleiche Regeneration zerstörter Nervenfasern neuropathische Schmerzen auslösen kann. „Dies liefert einen Erklärungsmechanismus für die paradoxen Wahrnehmungsstörungen, die in der Klinik beobachtet werden“, so Gangadharan und seine Kollegen.

Die Wissenschaftler wollen nun als nächstes untersuchen, wie die taktilen Fasern zur Regeneration angeregt werden können, damit das Ungleichgewicht zwischen Berührungs- und Schmerzempfinden gar nicht erst zustande kommt. (Nature, 2022; doi: 10.1038/s41586-022-04777-z)

Quelle: Universitätsklinikum Heidelberg

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