Gedankenexperimente können die Forschung auch beeinflussen und anregen. Zum Beispiel das Gedankenspiel Silicon Brain: In dem Gehirn eines Menschen wird nacheinander jede Nervenzelle durch einen elektrischen Schaltkreis ausgetauscht. Immer eine nach der anderen. Am Ende wäre das biologische Gehirn durch ein technisches ersetzt. Wäre der Mensch am Ende noch derselbe, mit demselben Bewusstsein?
Wie arbeitet das Gehirn?
Dies ist nur eines von einer ganzen Reihe von Gedankenexperimenten, die sich mit dem menschlichen Hirn beschäftigen. Oft geht es um komplexe und teilweise hochphilosophische Themen wie Bewusstsein, künstliche Intelligenz oder die Rolle von Sinneseindrücken. „Dahinter steht jedoch immer eine grundlegende Frage: Wie funktioniert das menschliche Gehirn?“, sagt Markus Diesmann, Leiter des Bereichs „Computational and Systems Neuroscience“ am Forschungszentrum Jülich.
Er versucht, genau das herauszufinden. „Gedankenexperimente zeigen, wohin Annahmen und Hypothesen letztlich führen, vor allem wenn man über das hinausdenkt, was man praktisch wirklich tun oder bestimmen kann“, glaubt er. Denn natürlich lässt sich ein Gedankenexperiment wie das Silicon Brain nicht im Labor testen. Und auch für ihren Forschungsansatz nutzen Diesmann und sein Team von Physikern Computersimulationen.
100.000 Neuronen im Computer
Die Jülicher Forscher arbeiten an einer Simulation des menschlichen Gehirns: „Wir beschreiben eine Nervenzelle mit wenigen Gleichungen und bauen daraus Netzwerke zusammen, die dem menschlichen Gehirn möglichst ähnlich sein sollen. Wir glauben, dass dabei die Zusammenarbeit der Nervenzellen in einem Netzwerk das eigentlich Interessante ist.“
In jahrelanger Arbeit simulierten Diesmann und seine Kollegen einen Kubikmillimeter eines menschlichen Hirns: rund 100.000 Zellen, jede einzelne davon mit etwa 10.000 Kontakten, die zu anderen Zellen führen. „Als Naturwissenschaftler haben wir unsere eingeschränkte Toolbox, unsere wissenschaftlichen Methoden. Damit versuchen wir, das Gehirn zu verstehen.“ Die philosophische Frage nach dem Bewusstsein rückt dabei natürlich zunächst in den Hintergrund. Vielleicht werden Diesmanns Forschungen eines Tages aber trotzdem dazu beitragen, sie zu beantworten.
„Bei Silicon Brain geht es um Identität und Selbstbewusstsein. Wie bei vielen Gedankenexperimenten gibt es aber auch hier eine ethische Komponente“, erklärt Bert Heinrichs, der sich viel mit angewandter Ethik beschäftigt, speziell in den Neurowissenschaften und der Medizin. So holte das Institut für Neurowissenschaften und Medizin den Philosophen auch zu einem seiner jährlichen Retreats, wo er die Welt der Gedankenexperimente vorstellte. Johannes Ermert, Koordinator des Retreats: „Wir haben in den Jülicher Neurowissenschaften viele ethische Fragen – da ist es wichtig, bereits unsere Doktoranden an hilfreiche Werkzeuge wie Gedankenexperimente heranzuführen.“
Das chinesische Zimmer
Auf die Frage, welches Gedankenexperiment Heinrichs den Jülicher Kollegen zum Mitdenken mit auf den Weg geben würde, beschreibt er das „Chinesische Zimmer“ des Philosophen John Searle: In diesem Szenario sitzt ein Mensch, der kein Chinesisch beherrscht, in einem geschlossenen Raum. Vor ihm liegt ein in chinesischen Schriftzeichen verfasster Text, zu dem er durch einen Schlitz in der Wand Fragekarten – ebenfalls auf Chinesisch – zugeschoben bekommt und beantworten soll.
Dazu hat er ein Handbuch in seiner Muttersprache und chinesische Skripte, die die für die Antwort nötigen Informationen enthalten. Das Handbuch enthält Anweisungen dazu, welche Schriftzeichen er als Reaktion auf bestimmte Zeichen in der Frage antworten soll. Der Mensch führt diese Anweisungen rein mechanisch-formell aus, ohne den Sinn zu verstehen und gibt die Antwortkarten zurück durch den Schlitz nach draußen. „Und die Menschen draußen? Die gehen davon aus, dass da jemand im Zimmer sitzt, der Chinesisch beherrscht“, so Heinrichs.
John Searle nutzte dieses Gedankenexperiment um zu illustrieren, dass ein scheinbar intelligenter Computer noch lange kein Bewusstsein besitzen oder entwickeln muss, um seine Funktionen zu erfüllen. Seiner Ansicht nach wäre daher selbst das Bestehen des Turing-Tests noch kein Beweis dafür, dass eine künstliche Intelligenz wirkliche Intelligenz im menschlichen Sinne besitzen würde. Ob Searle Recht hatte, ist bis heute stark umstritten.