Astronomie

Eine neue Klasse von Sternsystemen

Isolierte Ansammlungen junger, blauer Sterne passen in keine Kategorie

Blaues Sternsystem
Diese blauen Sterne sind Teil einer ungewöhnlichen Sternansammlung, die eine neue Klasse von Sternsystem repräsentiert. © Michael Jones

Ursprung unklar: Astronomen haben im nahen Virgo-Galaxienhaufen eine exotische Art von Sternansammlungen entdeckt. Sie bestehen aus jungen, blauen Sternen, die eine unregelmäßige Gruppe bilden, aber hunderttausende Lichtjahre von jeder Galaxie entfernt liegen. Ungewöhnlich ist auch das Fehlen alter Sterne und der hohe Gehalt an schweren Elementen in diesen „blauen Klumpen“. Doch wo und wie sie entstanden, ist unklar.

Normalerweise stehen Sterne nicht isoliert im All, sondern sind Teil einer Galaxie. In dieser können sie lose verteilt in der Hauptebene stehen, sie können aber auch Teil einer gasreichen Sternenwiege, eines Sternenhaufens oder eines Sternenstroms sein. Immer aber sind diese Sternsysteme gravitativ an die Galaxie gebunden und profitieren von ihrem gasreichen interstellaren Medium als Nährboden für die Sternbildung – so das gängige Schema.

Rätselhafter „blauer Klumpen“

Doch jetzt haben Astronomen um Michael Jones von der University of Arizona fünf Sternsysteme entdeckt, die in keine der bekannten Kategorien passen. Anstoß für die Studie gab der Fund eines ungewöhnlich blauen Objekts im rund 60 Millionen Lichtjahre entfernten Virgo-Galaxienhaufen. Nähere Beobachtungen ergaben, dass es sich um eine lose Ansammlung von jungen, blauen Sternen handelte. Dieser „blaue Klumpen“ produzierte zudem laufend weiter neue Sterne.

Das Merkwürdige jedoch: Dieser SECCO 1 getaufte „Klumpen“ lag nicht in einer der Galaxien des Virgo-Haufens, sondern völlig isoliert im All. Um herauszufinden, ob es sich bei diesem exotischen System um einen Einzelfall handelt und wie es entstanden sein könnte, haben Jones und sein Team gezielt nach weiteren Vertretern solcher „blauen Klumpen“ gesucht. Dafür durchmusterten sie den Virgo-Galaxienhaufen unter anderem mit dem Hubble-Weltraumteleskop, den Radioteleskopen des Very Large Array und dem MUSE-Instrument am Very Large Telescope in Chile.

Extrem blau, jung und aktiv

Tatsächlich wurden die Astronomen fündig: Sie entdeckten vier weitere Ansammlungen junger, blauer Sterne, die fernab jeder Galaxie im Virgo-Haufen liegen. „Diese Systeme zeigen eine erhöhte Dichte junger, blauer Strahlenquellen mit starker UV-Begleitemission“, erklären die Forschenden. „Die Systeme sind so extrem blau, dass Modelle der Sternpopulationen Probleme haben, dies zu reproduzieren – selbst wenn man von einem sehr jungen Alter der Sterne ausgeht.“ Die Astronomen schätzen das Alter der blauen Klumpen auf zwischen 50 und 110 Millionen Jahre.

Die jungen blauen Sterne in diesen Systemen sind unregelmäßig angeordnet und verteilen sich über wenige tausend Lichtjahre. Sie sind damit kleiner als gängige Zwerggalaxien. Ungewöhnlich auch: In den blauen Klumpen findet eine aktive Sternbildung statt, obwohl sie nur wenig Wasserstoffgas enthalten. Damit fehlt ihnen eigentlich der Rohstoff für neue Sterne und man müsste in diesen Klumpen vermehrt alte, rote Sterne finden.

Doch das ist nicht der Fall. „Diese blauen Sterne sind wie eine Oase in der Wüste“, sagt Jones. „Die Existenz von vorwiegend jungen Sternen und wenig Gas spricht dafür, dass diese Systeme erst vor Kurzem ihr Gas verloren haben müssen.“

Aus einer Galaxie herausgerissen?

Das weckt die Frage, wie diese exotischen Sternsysteme entstanden sein könnten. Einen Hinweis darauf lieferte – neben dem Fehlen alter Sterne und Gas – die spektroskopische Analyse der Elementzusammensetzung dieser „blauen Klumpen“. Sie ergab, dass diese Sternsysteme ungewöhnlich metallreich sind und einen hohen Anteil an Elementen schwerer als Helium enthalten. Solche Elemente jedoch entstehen erst durch Fusion im Inneren von Sternen.

„Die Anreicherung mit Metallen erfordert wiederholte Episoden der Sternbildung“, erklärt Jones. Bei diesen Zyklen werden die schwereren Elemente immer wieder bei Supernovae freigesetzt und in neue Sterne aufgenommen. „So etwas bekommt man aber nur in einer großen Galaxie“, so der Astronom. Er und seine Kollegen schließen daraus, dass die blauen Sternsysteme oder zumindest ihr Ausgangsmaterial ursprünglich Teil einer Galaxie waren.

„Der einzige plausible Mechanismus für die Bildung dieser Systeme ist, dass sie aus Material entstanden, das aus einer größeren Galaxie herausgerissen wurde“, schreiben die Astronomen.

Bildung beim Sturz in den Galaxienhaufen

Wie aber kam es zur Trennung der allein im All schwebenden blauen Sternsysteme von ihrer Muttergalaxie? Theoretisch sind dafür zwei Mechanismen denkbar, wie die Astronomen erklären. Der erste ist das sogenannte Tidal Stripping, bei dem Schwerkraft-Turbulenzen bei der nahen Begegnung zweier Galaxien Gas und Sterne aus den Galaxien herausreißen. Allerdings dauert dies typischerweise relativ lange und die Massen der herausgerissenen Gas- und Sternenströme sind eine Größenordnung größer als bei den blauen Sternensystemen, wie das Team erklärt.

Die Astronomen halten daher den zweiten Mechanismus für wahrscheinlicher, das sogenannte Ram Pressure Stripping. Dieses ereignet sich, wenn eine von außen kommende kleinere Galaxie in den Galaxienhaufen stürzt. Dabei tritt sie in das dichtere intergalaktische Medium des Haufens ein und wird dabei einer Art „Fahrtwind“ ausgesetzt: Das weniger stark gebundene Gas der einfallenden Galaxie wird vom intergalaktischen Medium verdrängt und aus der Muttergalaxie gerissen.

„Das ist der Mechanismus, den wir hinter diesen exotischen Sternsystemen vermuten“, sagt Jones. Er wäre schnell und heftig genug, um isolierte Gaswolken weit aus ihren Muttergalaxien herauszuschleudern. Weit draußen bildet dieses Gas dann den Rohstoff für die jungen blauen Sterne.

Die Suche geht weiter

Noch müssen erst weitere Beobachtungen bestätigen, ob das Ram Pressure Stripping tatsächlich der Bildungsweg für diese blauen Sternsysteme ist. Möglich wäre das, wenn es den Astronomen gelingt, solche blauen Sternsysteme oder ihre Vorstufen direkt bei ihrer Entstehung zu beobachten. (Astrophysical Journal, submitted; doi: 10.48550/arXiv.2205.01695)

Quelle: University of Arizona

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