Überraschende Erkenntnis: Brustkrebs-Tumoren sind dann am aktivsten, wenn wir schlafen. Sie produzieren in der Nacht am meisten Metastasen und streuende Krebszellen, wie eine Studie mit Menschen und Mäusen enthüllt. Die nachts abgesiedelten Krebszellen sind zudem aktiver und bilden schneller Metastasen. Kontrolliert wird dieser umgekehrte Tagesrhythmus der Krebszellen von den Hormonen unserer inneren Uhr, wie die Forschenden in „Nature“ berichten. Sie wollen nun herausfinden, ob dies auch für andere Krebsarten gilt.
Die am meisten gefürchtete Folge einer Krebserkrankung sind Metastasen, denn sie sind oft nur schwer zu entfernen oder zu behandeln. Diese Tochtergeschwülste entstehen, wenn sich Krebszellen oder Zellklumpen vom Primärtumor lösen und mit dem Blut in andere Gewebe und Organe gelangen. Ob und wie stark ein Krebs streut, hängt dabei von seiner genetischen Signatur, aber auch Umweltfaktoren ab. Im, Verdacht stehen unter anderem Stresshormone, Stoffwechselprodukte und auch Störungen des Tumors durch mechanische Verletzung oder Chemotherapie.
Wann streut der Tumor am meisten?
Doch eine Frage blieb bislang weitgehend unbeachtet: Wann streut ein Tumor? „Bisher nahm man meist an, das wachsende Tumoren ständig streuende Krebszellen abgeben“, erklären Zoi Diamantopoulou von der ETH Zürich und ihre Kollegen. Andererseits beobachtete das Team, dass Krebszellkulturen je nach Tages- und Nachtzeit sehr unterschiedliche Mengen an freien Zellen enthalten können.
Um dieser Spur nachzugehen, untersuchten die Forschenden Blutproben von 30 Brustkrebs-Patientinnen, die vormittags um zehn Uhr und dann noch einmal um 04:00 Uhr nachts entnommen worden waren. Und tatsächlich: „Wir fanden die meisten zirkulierenden Krebszellen – 78,3 Prozent – in den während der nächtlichen Ruhephase entnommenen Blutproben“, berichtet das Team. Das legte nahe, dass die Brustkrebs-Tumoren nachts stärker streuen als tagsüber.
Beim Schlafen werden mehr Krebszellen freigesetzt
Um zu überprüfen, ob dies ein generelles Phänomen ist und welche Mechanismen dahinter stecken könnten, führten Diamantopoulou und ihr Team ergänzende Tests mit vier verschiedenen Mäusegruppen durch, die entweder an einer murinen Form des Brustkrebses litten oder denen menschliche Brustkrebszellen und -tumoren eingepflanzt worden waren. Auch bei den Tieren kontrollierten sie die Menge der zirkulierenden Krebszellen zu verschiedenen Tageszeiten. Weil Mäuse nachtaktiv sind, liegt bei ihnen die Ruhephase am Tag.
Das Ergebnis: Auch bei den Mäusen zeigte sich ein klarer Zusammenhang von Tageszeit und Menge der streuenden Krebszellen. Während der Ruhephase der Tiere gaben ihre Tumoren bis zu 88-mal mehr einzelnen Krebszellen und bis zu 278-mal mehr Krebszellklumpen ab, wie die Forschenden feststellten. Interessant auch: Versetzten sie die Mäuse künstlich in einen Jetlag, verschoben sich auch die Zeiten der größten Metastasen-Absiedlung beim Brustkrebs-Tumor.
Schnellere Metastasenbildung in der Nacht
Nach Ansicht der Forschenden demonstriert dies, dass die Metastasierung eng mit der inneren Uhr und dem Tagesrhythmus verknüpft ist: „Der Tumor erwacht, wenn die betroffene Patientin schläft“, sagt Seniorautor Nicola Aceto von der ETH Zürich. Anders als bisher angenommen streut der Tumor demnach nicht ständig, sondern vor allem während der nächtlichen Schlafperiode. Dies spiegelte sich auch in der Genaktivität der des Primärtumors und der gestreuten Krebszellen wider.
Hinzu kommt: Die nachts zirkulierenden Krebszellen teilten sich schneller als die wenigen am Tage freigesetzten, wie die Experimente ergaben. „Die während der Ruhephase zirkulierenden Krebszellen neigen stark zur Metastasenbildung, während die tagsüber erzeugten Krebszellen keine metastatische Wirkung zeigen“, berichten Diamantopoulou und ihre Kollegen. Demnach streut der Tumor nachts nicht nur mehr, die gestreuten Zellen sind dann auch aktiver und damit Metastasen-trächtiger.
Hormone verraten dem Tumor die Tageszeit
Doch woher weiß der Tumor, wann es Nacht ist? Um das herauszufinden, verabreichten die Forschenden den Mäusen verschiedene Botenstoffe, die für ihre Wirkung auf die innere Uhr und den Tagesrhythmus bekannt sind, darunter das Schlafhormon Melatonin, das Steroidhormon Dexamethason sowie Testosteron. Die beiden ersten Hormone verabreichte das Team den Mäusen jeweils gegenläufig zum normalen Rhythmus, das Testosteron wurde langsam, aber gleichmäßig über ein implantiertes Pellet freigesetzt.
Es zeigte sich: Sowohl Melatonin als auch Dexamethason veränderten die Freisetzung der streuenden Krebszellen aus dem Primärtumor. Erhielten die Mäuse beispielsweise eine Dosis des Cortisons zu Beginn ihrer Ruhephase, siedelten ihre Tumoren deutlich weniger Krebszellen ab als normal. Das Testosteron senkte die Zahl der zirkulierenden Krebszellen ebenfalls signifikant und anhaltend, wie Diamantopoulou und ihr Team berichten.
„Zusammengenommen deuten diese Resultate daraufhin, dass die Vermehrung und das Streuen der Brustkrebszellen von den Schwankungen wichtiger Hormone des zirkadianen Rhythmus abhängen“, konstatieren die Forschenden.
Neue Ansätze für Therapie und Diagnose
Die neuen Erkenntnisse könnten nun dazu beitragen, neue Ansätze zur Metastasen-Prävention und zur Krebsbehandlung zu finden. So könnte es sein, dass beispielsweise Chemotherapien je nach Tageszeit besser oder schlechter gegen den Tumor und die Metastasierung wirken. Auch für die Diagnose und Überwachung von Krebserkrankungen könnte der Tagesrhythmus der Krebszellen wichtig sein. Denn eine Biopsie oder Blutprobe kann je nach Tageszeit möglicherweise verschiedene Ergebnisse erbringen.
Bisher haben die Forschenden die nächtliche Aktivität nur bei Brustkrebstumoren und -zellen nachgewiesen. Als nächstes wollen sie nun prüfen, ob es einen solchen Tagesrhythmus auch bei anderen Krebsarten gibt. (Nature, 2022; doi: 10.1038/s41586-022-04875-y)
Quelle: ETH Zurich