Ein Teilchen nur aus Neutronen gilt eigentlich als unmöglich. Doch jetzt haben Physiker ein Ensemble aus vier Neutronen erzeugt, das einem solchen Zustand zumindest nahe kommen könnte. Denn die Energie dieses Tetraneutrons spricht dafür, dass diese Neutronen eine der Resonanz ähnliche Kopplung eingegangen sind, wie das Team in „Nature“ berichtet. Ihr Experiment liefert die bisher klarsten Messdaten zu einem solchen System. Wie stark die Neutronen im Tetraneutron aber wirklich wechselwirken, bleibt strittig.
Im Atomkern bilden Neutronen gemeinsam mit Protonen die Grundbausteine der Materie. Doch ohne ihre positiv geladenen Partner sind Neutronen instabil: Ein isoliertes Neutron zerfällt nach knapp 15 Minuten. Auch Teilchen nur aus Neutronen galten bislang als physikalisch unmöglich – sie widersprechen gängigen Modellen der starken Kernkraft und dem Pauli-Ausschlussprinzip. Nach diesem können solche Elementarteilchen nicht im gleichen Zustand an derselben Stelle vorkommen.
Kann es doch ein Tetraneutron geben?
Trotzdem suchen Physiker seit fast 60 Jahren nach einem solchen „unmöglichen“ Teilchen – dem Tetraneutron. Denn zumindest einigen Hypothesen nach könnte ein solches Gebilde aus vier schwach gebundenen oder zumindest in Resonanz miteinander stehenden Neutronen vielleicht doch existieren. Würde man es finden, könnte dies wertvolle Informationen zur starken Kernkraft, aber auch zum Innern von Neutronensternen liefern. Denn diese bestehen nur aus Neutronen.
Das Problem jedoch: Zwar haben einige Experimente tatsächlich Hinweise auf die mögliche Existenz von Tetraneutronen geliefert. In ihnen hatten Forscher versucht, das flüchtige Ensemble durch Kollisionen neutronenreicher Lithium- oder Helium-Isotope zu erzeugen. Bisher jedoch reichte die Präzision der Messungen nicht aus, um das Tetraneutron eindeutig nachzuweisen.
Neutronenhülle um Heliumkern
Jetzt haben Physiker um Meytal Duer von der TU Darmstadt eine neue Methode entwickelt, um das Tetraneutron aus der Reserve zu locken – und sie am RIKEN-Forschungszentrum in Japan ausprobiert. Dabei beschossen sie ein Ziel aus Protonen mit einem Strahl des neutronenreichen Helium-Isotops 8He. Dieses Isotop ist besonders gut geeignet, weil es einen normalen Heliumkern aus zwei Protonen und zwei Neutronen (4He) als zentralen Kern besitzt, um den vier zusätzlichen Neutronen angeordnet sind.
Bei der Kollision mit dem Proton wird der innere Heliumkern aus diesem Ensemble hinausgeschleudert und rast mit hoher Geschwindigkeit davon. Die äußeren vier Neutronen bleiben jedoch von diesem Aufprall nahezu unberührt. „Weil kein zusätzlicher Impuls auf diese Neutronen übertragen wird, bewegen sie sich mit fast der gleichen Geschwindigkeit weiter“, erklären die Forschenden. Das ermöglicht es ihnen, miteinander in Wechselwirkung zu treten – und ein Tetraneutron zu bilden.
Tetraneutron im resonanzähnlichen Zustand
Aus der Energie des herausgeschlagenen Heliumkerns und des ebenfalls bei der Kollision weggeschleuderten Protons konnte das Team ermitteln, welche Energie die verbliebenen vier Neutronen hatten. Das wiederum erlaubte Rückschlüsse auf ihren Zustand. Das Ergebnis: „Wir haben einen ausgeprägten, statistisch hochsignifikanten Peak beobachtet, der eine Energie von 2,37 Megaelektronenvolt und eine Breite von 1,75 Megaelektronenvolt aufweist“, schreiben Duer und ihre Kollegen.
Diese Werte liegen in dem Bereich, in dem auch theoretische Modelle ein Tetraneutron aus schwach gebundenen oder in Resonanz stehenden Neutronen verorten. Nach Ansicht des Forschungsteams spricht dies dafür, dass im Experiment kurzlebige Tetraneutronen entstanden sind. Den Messdaten zufolge könnte es sich dabei um ein Vier-Neutronen-Ensemble handeln, das sich in einem resonanzähnlichen Zustand befindet, wie die Physiker erklären. Dies komme der Schwelle zu dem seit 60 Jahren gesuchten resonanten Tetraneutron sehr nahe.
…oder doch nicht?
Nicht ganz überzeugt sind hingegen Lee Sobotka und Maria Piarull von der Washington University. „Diese Arbeit hat Daten von hoher statistischer Signifikanz erzeugt und ist damit früheren Arbeiten deutlich überlegen“, schreiben sie einem begleitenden Kommentar. „Aber wir sind nicht davon überzeugt, dass Duer und Kollegen damit die Resonanz eines isolierten Vier-Neutronen-Systems nachgewiesen haben.“ Dafür seien weitere theoretische und experimentelle Forschungen nötig.
Tatsächlich haben Duer und ihre Kollgen genau solche Experimente bereits in Planung: „Wir planen nun ein Experiment der nächsten Generation an der R3B-Anlage bei FAIR, mit dem die direkte Messung der Korrelationen zwischen den vier Neutronen möglich sein wird“, sagt Duer. “ Dies wird neue Erkenntnisse über die Natur dieses Vier-Neutronen Systems liefern.“ FAIR steht für „Facility for Antiproton and Ion Research“ und ist ein Spezialbeschleuniger am Institut für Schwerionenforschung in Darmstadt. (Nature, 2022; doi: 10.1038/s41586-022-04827-6)
Quelle: Nature, TU Darmstadt