Rund die Hälfte aller heute existierenden Völker und Populationen haben im Laufe ihrer Geschichte drastische Einschnitte durchlebt, wie DNA-Vergleiche enthüllen. Das sind weit mehr als gedacht. Dabei blieben durch Katastrophen, Migration oder Krankheiten nur wenige Individuen übrig, die dann zu Gründern einer neuen Population wurden. Wann und wo diese genetischen Flaschenhälse in den verschiedenen Regionen auftraten, liefert nun neue Einblicke in die Menschheitsgeschichte.
Im Laufe der Menschheitsgeschichte haben die Populationen unserer Vorfahren zahlreiche Phasen der Ausbreitung und Schrumpfung durchlebt. So könnte die Menschheit beim Ausbruch des Vulkans Toba vor rund 74.000 Jahren nur knapp dem Aussterben entgangen sein, vor rund einer Million Jahren gab es unter Frühmenschen in Afrika einen ähnlich drastischen Bevölkerungseinbruch. Einen rätselhaften Schwund nur bei Männern könnte es hingegen vor rund 7.000 Jahren in Europa gegeben haben.
Weil durch solche Populations-Einschnitte die genetische Vielfalt stark abnimmt, hinterlassen sie Spuren im menschlichen Erbgut. Sie zeigen sich unter anderem an identischen DNA-Abschnitten, die von den wenigen übrigbleibenden Überlebenden oder Gründern an ihre Nachfahren weitergegeben werden. Je ähnlicher sich diese Abschnitte bei Individuen einer Population sind, desto drastischer war der genetische Flaschenhals. Je weniger diese Abschnitte zudem durch spätere Mutationen oder Chromosomen-Kreuzungen verändert wurden, desto weniger weit liegt das Ereignis zurück.
Einschnitte bei der Hälfte der Populationen
Wie stark solche Flaschenhälse die Menschheit geprägt haben und welche Regionen und Populationen besonders betroffen waren, erhellt nun erstmals eine Studie von Remi Tournebize von der University of California in Berkeley und seinen Kollegen. Dafür analysierten und verglichen sie die DNA von Menschen aus 300 heutigen Populationen sowie Proben alter DNA aus 160 früheren menschlichen Bevölkerungsgruppen und Kulturen. Insgesamt umfasste die Analyse 4.000 DNA-Sequenzen von mehr als 4.000 Menschen.
Das Ergebnis: „Wir waren überrascht zu sehen, wie verbreitet genetische Flaschenhälse und Gründerereignisse beim Menschen waren“, berichtet das Team. „Mehr als die Hälfte der 460 untersuchten Populationen hat in den letzten 10.000 Jahren mindestens einen starken genetischen Flaschenhals durchlebt.“ Bei diesen Ereignissen schrumpften die ursprünglichen Gruppengrößen oft bis auf wenige tausend oder sogar nur wenige hundert verbleibende Individuen zusammen. Einige Menschengruppen entgingen bei diesen Einschnitten nur knapp dem Aussterben.
Spuren von Eroberungen und Völkermord
Wen es bei diesen Einschnitten trifft, ist dabei nicht rein zufällig. „Unser Ergebnisse deuten darauf hin, dass geografische Isolation, Lebensweise und kulturelle Praktiken starke Indikatoren für die Intensität eines solchen genetischen Flaschenhalses sind“, erklären Tournebize und seine Kollegen. Auch die Eroberung durch andere Völker, wie die Kolonialisierung vieler Regionen durch die Europäer, haben teils drastische Spuren im Erbgut interlassen.
Einer dieser Flaschenhälse zeigt sich beispielsweise im Erbgut der amerikanischen Ureinwohner: Ihre Bevölkerung schrumpfte mit der Eroberung der Neuen Welt durch die Europäer drastisch. Die genetische Vielfalt der indigenen Bevölkerung sank dabei vor allem im Zeitraum vor 500 bis vor 200 Jahren, wie die Forschenden ermittelten. Dies passt zu früheren Studien, nach denen durch die Kolonialisierung Amerikas mehr als die Hälfte aller Ureinwohner direkt oder indirekt getötet wurden.
Insel als Gefahrenfaktor
Ein weiterer Risikofaktor ist das Leben auf einer Insel: „Insel-Populationen haben im Schnitt 2,5-fach stärkere Einschnitte erlebt als Menschengruppen auf dem Festland“, so das Team. In Europa durchlebten beispielsweise die Vorfahren der Isländer, Malteser und der Bewohner Sardiniens extreme Flaschenhälse, bei denen nur wenige hundert bis tausend Individuen überlebten. In Südostasien gab es solche Einschnitte auf Papua Neuguinea, Taiwan und den Philippinen.
Ursache für die Anfälligkeit der Inselpopulationen ist die meist von vornherein geringere Zahl der Bewohner, aber auch die geografische Isolation. Sie erschwert den Kontakt und genetischen Austausch mit anderen Menschengruppen. Gleich doppelt getroffen wurden die Rapa Nui, die Ureinwohner der Osterinsel im Pazifik. Ihre Population schrumpfte vor rund 260 Jahren noch stärker als die der amerikanischen Ureinwohner. Auslöser war vermutlich eine Kombination aus erschöpften ökologischen Ressourcen ihrer Insel und der Ankunft der Europäer.
Nomaden und Jäger und Sammler stärker betroffen
Auch die Lebensweise einer Kultur kann das Risiko für einen Populations-Einschnitt beeinflussen, wie Tournebize und sein Team feststellten. Demnach sind Nomaden und Jäger-und-Sammler-Kulturen anfälliger für genetische Flaschenhälse als sesshafte Bauern. In der Vergangenheit zeigte sich dies unter anderem an den steinzeitlichen Jägern und Sammlern in Europa, deren genetische Vielfalt deutlich häufiger und stärker absackte als die der späteren jungsteinzeitlichen Bauern.
Ähnliches zeigt sich auch bei heutigen Populationen: „Wir haben starke Flaschenhals-Ereignisse bei nomadischen Gruppen aus der Wüste Jemen und den Beduinen gefunden“, berichten die Forschenden. Auch viele Naturvölker in Afrika sowie einige Ureinwohner Nordostasiens wie die Tschuktschen, Inuit oder Jakuten zeigen vergangene Phasen der genetischen Verarmung.
Wertvolles Werkzeug
„Genomdaten sind wirklich machtvoll, denn sie sagen uns nicht nur, wo wir herkommen, sie verraten uns auch, wie unsere Geschichte zu verschiedenen Zeiten verlief“, sagt Seniorautor Priya Moorjani von der University of California in Berkeley. „Dies kann helfen, die historischen Ereignisse zu beleuchten, die zur Isolation von Populationen und zu genetischen Flaschenhälsen führen.“
Gleichzeitig kann eine solche Analyse auch verraten, welche Populationen möglicherweise besonders durch genetisch bedingte und von Vorfahren ererbte Krankheiten betroffen sind. (PLoS Genetics, 2022; doi: 10.1371/journal.pgen.1010243)
Quelle: PLOS, University of California – Berkeley