Ohne Masse wäre das Universum ein völlig anderer Ort: Es gäbe keine Atome und keine normale Materie. Erst die Masse der sie bildenden Teilchen sorgt dafür, dass die Grundbausteine der Materie zusammenhalten und miteinander wechselwirken. Doch woher bekommen die Elementarteilchen ihre Masse? Das Standardmodell der Teilchenphysik – die Basis unseres physikalischen Weltbilds – lieferte darauf lange Zeit keine Antwort.
Die schwache Kernkraft passt nicht
Und noch ein Problem gibt es – bei den Trägerteilchen der Grundkräfte, den Bosonen. Anders als materiebildende Fermionen wie Quarks und Elektronen dürften sie laut Theorie eigentlich keine Masse besitzen. Bei Photonen und Gluonen, den Trägerteilchen der elektromagnetischen und starken Grundkraft, stimmt dies auch. Sie sind masselos. Deswegen können Photonen sich auch problemlos mit Lichtgeschwindigkeit bewegen.
Doch die schwache Kernkraft passt nicht ins Schema: Zum einen hat sie nicht nur ein Trägerteilchen, sondern gleich zwei, das W- und das Z-Boson. Zum anderen aber besitzen diese Bosonen eine Masse. Das erklärt zwar die geringe Reichweite der schwachen Kernkraft, die unter anderem bei radioaktiven Zerfällen wirkt. Aber woher diese Austauschteilchen ihre Masse bekommen und warum nur sie und nicht die anderen, blieb jahrzehntelang ein Rätsel.
Ein Skalarfeld als Lösung
Mehr Licht ins Dunkel kam erst Anfang der 1960er Jahre, als gleich mehrere theoretische Physiker nach einer Lösung für das Massenproblem suchten – unter ihnen Robert Brout und Francois Englert in Belgien und Peter Higgs in Großbritannien. Unabhängig voneinander kamen sie zu der Erkenntnis, dass ein das gesamte Universum durchziehendes, unsichtbares Feld das Problem lösen könnte. Dieses Skalarfeld kann quantenphysikalische Wechselwirkungen mit einigen der Elementarteilchen eingehen, durch die sich ihre Eigenschaften verändern. So können sie nur noch unter Energieaufwand beschleunigt werden – und haben damit eine Masse.
In einer bekannten Analogie vergleicht der britische Physiker David Miller diesen Brout-Englert-Higgs-Mechanismus mit einer Cocktail-Party. Betritt eine bedeutende Persönlichkeit den Raum, sammelt sich schnell eine Traube anderer Gäste um ihn. Der Prominente kann sich vor lauter Menschen kaum mehr vorwärtsbewegen – ähnlich einem Teilchen mit hoher Masse, das nur mit viel Energie beschleunigt werden kann.
Asymmetrische Wirkung
Und auch für die Tatsache, dass nicht alle Trägerteilchen eine Masse haben, liefert der Brout-Englert-Higgs-Mechanismus eine Erklärung: Das Higgs-Feld interagiert nicht mit allen Bosonen gleich, es zeigt eine Asymmetrie. Weil es in Bezug auf die Elektrodynamik und Quantenchromodynamik neutral ist, bleiben die Trägerteilchen dieser Kräfte – Photonen und Gluonen – masselos. Auf alle anderen Teilchen hingegen übt das Feld eine Art Bremswirkung aus und verleiht ihnen Masse.
Vergleichbar ist dies mit der Haarrichtung in einem Fell: Bewegt sich ein Teilchen, beispielsweise das Photon, mit dem „Haarstrich“ des Higgs-Felds, erfährt es keinen Widerstand und bleibt masselos. Bewegt sich ein Teilchen hingegen gegen den Strich, ist mehr Energie nötig – es bekommt eine Masse. Die gilt für alle materiebildenden Fermionen und die W- und Z-Bosonen der schwachen Kernkraft.
Das Higgs-Feld und sein Boson
Soweit die Theorie. Doch wie beweist man sie? Hier kommt das Higgs-Boson ins Spiel. Denn wenn es dieses Skalarfeld gibt, dann besitzt es die Fähigkeit, sich an bestimmten Stellen zu verdichten. Ähnlich wie ein Photon Welle und Teilchen zugleich ist, kann sich auch das Higgs-Feld an diesen Stellen in einem Teilchen manifestieren. „Was könnte das Standardmodell besser mit den Messdaten versöhnen als dieses? Wenn es kein Higgs-Boson gibt, dann ergibt die ganze Theorie keinen Sinn“, konstatierte Peter Higgs im Jahr 2004.
Der Physiker war schon damals zuversichtlich, dass dieses fehlende Puzzlestück im Standardmodell bald gefunden werden würde. Die Jagd auf das Higgs-Boson war eröffnet.