Das Higgs-Boson hat eine bedeutende Lücke im physikalischen Standardmodell gefüllt. Trotzdem bleibt auch nach seiner Entdeckung vieles ungeklärt – nicht zuletzt über das Higgs-Feld und sein Teilchen selbst. „Das Higgs-Boson sagt uns, dass unsere Theorie fantastisch funktioniert“, sagt der britische Physiker John Ellis. „Es wird daher oft als das Teilchen dargestellt, das das Standardmodell komplett macht. Aber in Wirklichkeit wirft es einen ganzen Haufen neuer Fragen auf.“
Spontaner Symmetriebruch im Higgs-Feld
Eine dieser Fragen betrifft die Entstehung und Natur des Higgs-Felds. „Das Higgs-Boson ist das erste und bisher einzige Skalar-Teilchen unter den Grundkräften der Natur“, erklärt der Nobelpreisträger frühere CERN-Generaldirektor Carlo Rubbia. „Anders als andere Kräfte hat das Higgs-Feld keine bevorzugte Richtung und sieht auch gespiegelt immer gleich aus.“ Der Theorie zufolge entstand dieses Feld direkt beim Urknall – lange bevor es Atome gab. In seinem Urzustand ergaben die Skalarwerte des Higgs-Felds im Schnitt überall Null. Dadurch hatte nichts und niemand eine Masse.
Doch schon wenige Sekundenbruchteile nach dem Urknall durchlief das Higgs-Feld einen spontanen Symmetriebruch: Es nahm eine neue Konfiguration an, deren Werte im Mittel einer Energie von ungefähr 246 Gigaelektronenvolt entsprechen. Dadurch begann es, andere Felder und Teilchen zu beeinflussen und einem Teil von ihnen eine Masse zu verleihen. Das scheinbar Paradoxe daran: Die dieses Feld beschreibenden Gleichungen sind noch immer symmetrisch, nur die physikalische Realität ist es nicht.
Physiker beschreiben diesen spontanen Symmetriebruch des Higgs-Felds auch mit dem Sombrero- oder Sektflaschen-Modell: Das Skalarfeld ähnelt dabei dem aufgewölbten Boden einer Sektflasche oder einem gewölbten Sombrero. Würde man nun einen Bleistift auf der zentralen Erhebung balancieren, wäre alles perfekt symmetrisch – die Form des Felds macht dies möglich. Doch in der Realität kippt der Stift ziemlich schnell um und fällt in eine Richtung – die Symmetrie wird zumindest für den Stift gebrochen, obwohl sich die Form des Felds nicht ändert.
Was liegt hinter der Hutkrempe?
Das Problem an diesem Szenario: Bisher ist unklar, ob sich das Higgs-Feld tatsächlich mit dem Sombrero-Modell beschreiben lässt und wie es hinter dem ansteigenden Rand der Hutkrempe weitergeht. Gibt es dahinter womöglich einen Abgrund, in dem das Feld noch niedrigere Werte als im Tal der „Hutkrempe“ annehmen kann? Dann wäre das Feld nur metastabil und könnte in einen neuen, niedrigeren Energiezustand umkippen. Steigen die Werte der „Hutkrempe“ hingegen nach außen immer weiter an, wäre das Higgs-Feld stabil.
Eine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, bietet die sogenannte Tripel-Kopplung des Higgs-Bosons – ein Verhalten, das die Wechselwirkung der Higgs-Bosonen mit seinesgleichen beschreibt. Der Theorie nach könnte das Higgs das einzige Teilchen im Standardmodell sein, das mit sich selbst interagiert. Wäre dies der Fall, müssten einige Higgs-Bosonen im Teilchenbeschleuniger in zwei weitere Higgs-Bosonen zerfallen.
Das Entscheidende daran: Wenn diese Tripel-Kopplung existiert, könnte ihre Häufigkeit und die Energien, bei denen sie auftritt, Aufschluss darüber geben, ob das Higgs-Feld den Vorhersagen des Standardmodells folgt oder ob es Raum für „neue Physik“ in Form unerkannter Teilchen oder Kräfte gibt. Die ATLAS-Kollaboration am LHC hat bereits begonnen, nach den Zerfallsprodukten solcher Tripel-Kopplungen zu suchen, und auch hier erhoffen sich die Physiker mehr und bessere Daten in der ab Sommer 2022 beginnenden dritten Laufzeit des LHC.
Ist das Higgs unteilbar?
Und noch eine weitere Frage zum Higgs-Boson erforschen die Physiker der ATLAS-Kollaboration zurzeit: Handelt es sich bei ihm um ein echtes, unteilbares Elementarteilchen wie Photonen, Quarks und Gluonen oder hat das Higgs-Boson womöglich sogar eine Unterstruktur? Einige Modelle zu physikalischen Prozessen jenseits des Standardmodells sagen dies voraus. Demnach könnte das Higgs eher einem Pion gleichen, einem Partikel aus einem Up-Quark und einem Anti-Down-Quark, das bei der Bindung der Protonen und Neutronen im Atomkern eine Vermittlerrolle spielt.
Erkennbar wäre eine solche Unterstruktur des Higgs-Bosons an der Bildung exotischer „Vektor-ähnlicher“ Quarks. 2021 haben Physiker der ATLAS-Kollaboration dazu erste Auswertungen der Kollisionsdaten im LHC vorgestellt. Diese sprechen jedoch bisher dafür, dass sich das Higgs-Boson so verhält wie im Standardmodell beschrieben und damit ein echtes Elementarteilchen ist.
Noch allerdings hat die Erforschung des Higgs-Bosons und seiner Eigenheiten gerade erst begonnen. „Wenn wir die Merkmale des Higgs messen können, dann wird dies einige der brennenden Fragen der Physik beantworten“, erklärt die Physikerin Nima Arkani-Hamed vom Institute for Advanced Study der Princeton University.