Der Hohepriester des Amun, Amenophis, hatte sein Amt in der ersten Regierungshälfte von Ramses IX. übernommen und war einer der Hauptakteure am Ende der 20. Dynastie. Als erster Gottesdiener im Karnak-Tempel und Vorsteher der Amun-Domäne, deren Wirtschaftsmacht im Neuen Reich stetig gewachsen war, war Amenophis die höchste politische Instanz und Inhaber der größten Machtfülle in Theben.
Doppelgrabanlage von hoher Bedeutung
Sein Grabtempel und der seines Vaters und Amtsvorgängers Ramsesnacht werden im Rahmen eines Projektes der Abteilung Kairo des Deutschen Archäologischen Instituts in Dra‘ Abu el-Naga erforscht. In dieser altägyptischen Nekropole westlich von Theben wurden neben Pharaonen und Würdenträgern aus der 17.Dynastie auch die Beamte und hohe Würdenträger aus dem Neuen Reich bestattet – unter ihnen Amenophis und sein Vater.
Die Grabtempel dieser beiden Amun-Hohepriester liegen in der Doppelgrabanlage K93.11/K93.12. Mit einer Hofterrasse von über 1.600 Quadratmetern zählt sie zu den größten Felsgrabanlagen des Neuen Reiches in Theben-West.
Seit 1993 erforschen Archäologen des Deutschen Archäologischen Instituts diese Doppelgrabanlage. Sie haben unter anderem festgestellt, dass die Anlage auf besonders Weise in die religiöse Topografie der Nekropole eingebunden ist: Von K93.11/K93.12 aus gibt es eine direkte Sichtlinie zum Haupttempel von Karnak auf der Ostseite des Nils. Außerdem ist die exakt genordete Hauptachse des naheglegenen Tempels des Königspaares Amenophis I. und Ahmes-Nefertari namens Meni-set offenbar auf die Doppelgrabanlage ausgerichtet, wie die Forschenden berichten.
Einblick in die Zeit des Ramses XI.
Bereits in der Anfangszeit des Projekts stießen die Archäologen in den offenen Vorhöfen von K93.11 auf die Relikte des zerstörten Grabtempels von Ramsesnacht, der in der Regierungszeit von Ramses VI. ausdekoriert wurde. Unter den Funden waren tausende Fragmente der reliefdekorierten Wandverkleidung, Teile von Säulen, Kapitellen und Friesen aus Sandstein und die Reste einer monumentalen Lehmziegelarchitektur. Die Bestattung des Ramsesnacht wurde jedoch nicht gefunden. Seit 2006 untersucht das Forschungsteam auch den Grabtempel des Amenophis im südlich gelegenen Bereich K93.12. Auch dort wurden tausende Relief- und Architekturfragmente aus Sandstein geborgen.
Die in den Gräbern von Amenophis und Ramsesnacht dokumentierten Funde und Befunde haben nicht nur unsere Kenntnis der Architektur und religiösen Funktion des spätramessidischen Monumentalgrabes erweitert, sie gewähren außerdem Einblicke in die politische und ökonomische Situation der Zeit von Ramses IX. bis Ramses XI. So enthielt die geplünderte, in Resten geborgene Grabausstattung des Amenophis wiederbenutztes Inventar – obwohl der Hohepriester der höchste Vertreter der lokalen Elite war.
Priestergrab mit Einsparungen
Auffällig ist auch das Fehlen eines Steinsarkophags, der in den Jahrzehnten zuvor integraler Bestandteil von Elitebestattungen gewesen ist. Amenophis wurde in einem Holzsarg bestattet, der in seiner Gestaltung, von der Farbgebung bis hin zum Stil seiner Dekoration und Beschriftung einen Sarkophag aus Rosengranit imitiert – ein Hinweis darauf, dass zu seiner Zeit keine logistisch aufwendigen Steinbruchexpeditionen mehr erfolgten.
Und noch etwas fällt auf: Vergleicht man die Bauausführung und das Wandrelief in den Anlagen von Ramsesnacht und Amenophis, ist ein deutlicher Qualitätsabfall in der Steinbearbeitung erkennbar. Zwischen der baulichen Ausgestaltung der Grabtempel des Ramsesnacht und des Amenophis liegt ein Zeitraum von mindestens 25 Jahren. In dieser Zeit hat sich die Verfügbarkeit von spezialisierten und versierten Arbeitskräften vor allem in der Steinbearbeitung offenbar drastisch reduziert. Die „erste Garde“ der wenigen noch vorhandenen Steinspezialisten war vermutlich an der Baustelle des Königsgrabes im Tal der Könige gebunden.