Selektiver Effekt: Werden bestimmte Hirnareale durch schwachen Wechselstrom stimuliert, kann dies offenbar das Wortgedächtnis fördern – zumindest ein wenig, wie ein Experiment zeigt. Vier Tage mit jeweils 20-minütiger Stimulation verbesserten das Erinnern etwa einen Monat lang. Entscheidend dafür war ein Abstimmen der Stromfrequenz auf die Hirnwellen zweier Areale, die für Kurz- und Langzeitgedächtnis wichtig sind. Ob dieser positive Effekt jedoch auch bei Demenzpatienten auftritt, ist noch unbekannt.
Die Hirnstimulation mit elektrischen oder magnetischen Feldern wird bei Patienten mit schwerer Depression, Parkinson und einigen andere Leiden schon länger eingesetzt. Unklar ist aber, ob eine gezielte Stimulierung des Gehirns oder bestimmter Hirnareale auch gegen Gedächtnisprobleme und Demenz helfen kann. Zwar haben einige Pilotstudien mit elektrischen „Hirnschrittmachern“ oder einer Magnetstimulation bei Alzheimer-Patienten vielversprechende Ergebnisse erzielt, andere Studien konnte aber keine eindeutig positiven Effekte feststellen.
Zwei Hirnareale im Fokus
Einen Grund für diese Widersprüche könnten nun Shrey Grover und seine Kollegen von der Boston University gefunden haben. Demnach kommt es bei der Neurostimulation offenbar auf die richtigen Frequenzen am richtigen Ort an. Für ihre Studie untersuchten die Forschenden den Effekt von zwei verschiedenen Wechselstrom-Frequenzen auf das auditive-verbale Gedächtnis – die Erinnerung an gehörte Wörter. Im Test hörten die über 65-jährigen Testpersonen Listen mit je 20 Wörtern, die sie direkt danach so vollständig wie möglich wiedergeben sollten.
Während dieser Aufgabe wurden zwei Hirnareale der Teilnehmenden mittels Elektrodenkappe selektiv stimuliert. Eines war der präfrontale Cortex, der eng mit dem Langzeitgedächtnis verknüpft ist, das andere der untere Scheitellappen, der das auditiv-verbale Kurzzeitgedächtnis prägt. Dieser „Arbeitsspeicher“ sorgt dafür, dass wir uns beispielsweise am Satzende noch an dessen Anfang erinnern können, er hat aber nur eine begrenzte Kapazität.
Auf die Frequenz kommt es an
Der Clou jedoch: Gängiger Hypothese nach sind Kurz- und Langzeitgedächtnis auch mit verschiedenen Arten von Hirnwellen verknüpft. So scheinen Thetawellen mit einer Frequenz von vier bis acht Hertz eng mit dem Kurzzeitgedächtnis assoziiert, höherfrequente Gammawellen oberhalb von 30 Hertz hingegen mit dem Langzeitgedächtnis. In ihrem Experiment stimulierten die Wissenschaftler daher bei einem Teil ihrer 150 Testpersonen den Scheitellappen über eine Elektrodenkappe mit passenden Thetafrequenzen von vier Hertz, das Stirnhirn dagegen mit Wechselstrom im Gammawellen-Takt von 60 Hertz.
Bei einer weiteren Gruppe wurden beide Frequenzen vertauscht und eine dritte Gruppe bekam nur eine Scheinbehandlung. Die Stimulation hielt jeweils 20 Minuten an und wurde an vier aufeinanderfolgenden Tagen wiederholt. Vor Beginn der Experimente und nach einem Monat erfolgte ein Abschlusstest, bei dem neben den grundlegenden kognitiven Leistungen auch das Wortgedächtnis getestet wurde.
Kurz- und Langzeitgedächtnis für Wörter verbessert
Das Ergebnis: Wurden die beiden Hirnareale mit der jeweils passenden Frequenz stimuliert, schnitten die Testpersonen im Worttest signifikant besser ab. Wurden die Frequenzen vertauscht, war dies nicht der Fall. Sie erinnerten sich sowohl an den Behandlungstagen wie auch einen Monat später im Schnitt an etwas mehr Wörter. „Dies deutet darauf hin, dass diese durch Stimulation hervorgerufenen Verbesserungen spezifisch von Frequenz und Areal abhängen“, erklären Grover und seine Kollegen.
Dabei zeigten sich zwei getrennte Effekte: Die Stimulation des Stirnhirns mit dem Gamma-Wechselstrom verbesserte vor allem die Erinnerung an Wörter vom Anfang der 20-teiligen Liste – und damit das Langzeitgedächtnis. Bei Stimulation des Scheitellappens im niederfrequenten Thetarhythmus konnten sich die Testpersonen hingegen besser an die letzten vier Wörter auf der Liste erinnern. Dies deutet auf ein verbessertes Kurzzeitgedächtnis hin. Im Schnitt besserte sich die Trefferquote für die jeweils vier Wörter um rund 20 Prozent.
„Unsere Ergebnisse legen damit nahe, dass eine selektive Modulation der funktionsspezifischen Hirnstromrhythmen die Gedächtnisfunktion von älteren Menschen verbessern kann“, schreiben Grover und seine Kollegen. Allerdings verbesserten die Experimente nicht das generelle Gedächtnis, sondern nur sehr eng umgrenzte Aspekte des Erinnerns. Der Effekt betraf beispielsweise nur die Wörter am Anfang und Ende der Wortlisten, nicht aber die insgesamt erinnerte Wortzahl.
Noch keine Therapie für Demenz
Dafür profitierten Senioren mit anfangs schlechten kognitiven Leistungen besonders von der Stimulation – und die positiven Effekte der viertägigen Behandlung hielten rund einen Monat lang an. Dennoch sieht das Team in der selektiven Neurostimulation zunächst vor allem ein Werkzeug zur Grundlagenforschung. Inwieweit solche Behandlungen auch Menschen mit Demenz und anderen Neurodegenerativen Erkrankungen helfen können, müsse erst noch weiter erforscht werden, betonen die Wissenschaftler.
Ähnlich sieht es auch Johannes Levin vom Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in München: „Wir dürfen hier nicht vergessen, dass die Gehirne von Demenzkranken pathologisch betrachtet anders sind als jene von gesunden Menschen. Ich sehe es daher immer kritisch, wenn durch solche oder vergleichbare Studien die Hoffnung geweckt wird, man habe hier vielleicht eine Behandlungsmöglichkeit für den kognitiven Verfall im Alter oder aber auch bei Demenzkranken gefunden“, so der nicht an der Studie beteiligte Neurowissenschaftler. (Nature Neuroscience, 2022; doi: 10.1038/s41593-022-01132-3)
Quelle: Nature Neuroscience