Zwischen den Geschlechtern: Archäologen haben im Nordosten Portugals den ältesten bekannten Fall eines Menschen mit dem Klinefelter-Syndrom entdeckt. Ein dort vor mehr als 1.000 Jahren bestatteter Toter – vermeintlich ein Mann – erwies sich in DNA-Analysen als intersexuell: Er trug die Geschlechtschromosomen-Kombination XXY. Wie viele Menschen mit einem solchen überzähligen X-Chromosom war der Tote auffallend groß, hatte ungewöhnlich breite Hüften, aber sonst vorwiegend männliche Merkmale.
Unser biologisches Geschlecht entsteht durch ein komplexes Zusammenspiel von Genetik, Hormonen und vorgeburtlichen Einflüssen. Die Basis bilden jedoch die Geschlechtschromosomen: Hat ein Embryo als 23. Paar zwei X-Chromosomen, wird er wahrscheinlich eine Frau, hat er die Kombination XY, wird er vermutlich männlich. In seltenen Fällen passieren jedoch Fehler bei der Chromosomenaufteilung und ein Mensch hat ein Geschlechtschromosom zu wenig oder zu viel – er ist genetisch intergeschlechtlich.
Eine der häufigsten Formen solcher Chromosomen-Anomalien ist ein XY-Paar mit einem zusätzlichen X-Chromosom – das Klinefelter-Syndrom. Betroffene erscheinen äußerlich meist als männlich, sind aber auffallend groß und haben breitere Hüften und eine schwächere Behaarung als der männliche Durchschnitt. Meist sind ihre Testosteronwerte wegen verkleinerter Hoden niedriger als bei XY-Männern. Im Schnitt kommt das Klinefelter-Syndrom bei ein bis zwei Menschen pro 1.000 vor, die Dunkelziffer unerkannter Fälle könnte aber hoch sein.
Mittelalterlicher Toter mit breitem Becken
Den bisher ältesten bekannte Fall eines Menschen mit Klinefelter-Syndrom haben nun Xavier Roca-Rada von der University of Adelaide und seine Kollegen im Nordosten Portugals entdeckt. Bei Ausgrabungen auf dem mittelalterlichen Friedhof von Torre Velha stießen sie auf das gut erhaltene Skelett eines etwa 1,80 Meter großen Toten, der zum Zeitpunkt seines Ablebens gut 25 Jahre alt gewesen sein muss. Die Datierung ergab, dass er vor mehr als tausend Jahren auf diesem Friedhof bestattet worden war.
„Basierend auf der Morphologie und metrischen Analyse des Skeletts kamen wir zu dem Schluss, dass es sich um einen Mann handelte“, berichtet das Team. Merkwürdig jedoch: Die Hüftschaufeln waren deutlich breiter als es dem Durchschnitt der damaligen Männer entsprach. Um mehr über Herkunft und Geschlecht des Toten herauszufinden, entnahmen die Archäologen DNA-Proben und analysierten sie.
XXY als Geschlechtschromosomen
Das überraschende Ergebnis: Die tote Person hatte zwar eindeutig ein Y-Chromosom, aber der X-Chromosomenanteil in den Proben war deutlich höher als für einen Mann normal. „Als wir diese Ergebnisse sahen, waren wir ziemlich aufgeregt. „Weil aber alte DNA oft stark degradiert und von geringer Qualität ist, waren wir erstmals vorsichtig“, sagt Roca-Radas Kollege João Teixiera. Das Team unterzog die DNA daher mehreren unterschiedlichen Analysen.
Doch es blieb dabei. „Wir haben für unser Individuum den Karyotyp 47/XXY ermittelt“, berichten die Wissenschaftler. Demnach hatte der mittelalterliche Tote das Klinefelter-Syndrom – er war intersexuell. Dies erklärt auch die morphologischen Auffälligkeiten wie die große Körpergröße und das breite Becken.
Soziale Bedeutung unklar
Damit ist dieser mehr als tausend Jahre alte Tote aus Torre Velha der älteste bekannte Nachweis eines Klinefelter-Syndroms weltweit. Ob sich dieser Mensch zu Lebzeiten als Mann definierte und wie seine Stellung in seiner Gemeinschaft war, ist allerdings unbekannt. „Unsere Studie liefert zwar weitere Belege für die lange Geschichte des Klinefelter-Syndroms, aber welche soziologischen Implikationen dies hatte, können wir daraus nicht ableiten“, betont Teixiera.
Anders war dies bei einem nur wenig jüngeren Fall, den finnische Archäologen im Jahr 2021 aufdeckten: Sie hatten herausgefunden, dass die rund 900 Jahre alte „Kriegerin mit zwei Schwertern“ ebenfalls die Chromosomen-Kombination XXY trug. Dies schien ihrer hochrangigen Stellung in der nordischen Gesellschaft aber keinen Abbruch getan zu haben: Die „Kriegerin“ wurde mit reichlich Grabbeigaben und Attributen beider Geschlechter bestattet. (The Lancet, 2022; doi: 10.1016/S0140-6736(22)01476-3)
Quelle: Australian National University