Im kommenden Winter 2022/23 könnten gleich mehrere ungünstige Faktoren aufeinandertreffen: Durch den Krieg in der Ukraine und die ausbleibende Lieferung von Erdgas aus Russland ist Gas in Deutschland knapp, Gaskraftwerke können daher möglicherweise nur noch eingeschränkt laufen. Gleichzeitig sind in Frankreich – normalerweise einem der großen Stromexporteure in Europa – in diesem Jahr besonders viele Atomkraftwerke vorübergehend vom Netz gegangen.
Wenn dann noch ein harter Winter und hohe Preise für Energierohstoffe dazu kommen, engt dies den Spielraum für die Übertragungsnetzbetreiber ein. Ob das deutsche Stromnetz eine solche Mehrfachbelastung aushalten kann, darüber gehen die Meinungen auch unter Experten auseinander. Einen großen, länger anhaltenden Blackout halten die meisten aber für eher unwahrscheinlich.
Stresstest simuliert Extremszenarien
Doch wie groß ist das Risiko für einen Stromausfall? Aus aktuellem Anlass hat das Bundeswirtschaftsministerium (BMWI) die Resilienz des deutschen Stromnetzes in zwei Stresstests von den vier deutschen Übertragungsnetzbetreibern überprüfen lassen. Dabei werden virtuell verschiedene Risiko- und Extremszenarien daraufhin durchgespielt, ob die bestehenden Regelmöglichkeiten zur Stabilisierung des Stromnetzes ausreichen. Nachdem ein erster Stresstest im Frühjahr positiv ausfiel, hat die Bundesregierung angesichts der sich verschärfenden Gasmangellage einen zweiten Stresstest mit noch extremeren Risikoszenarien angeordnet.
Konkret gingen diese Szenarien davon aus, dass wegen Gasmangels ein Viertel bis die Hälfte der Gaskraftwerke in Süddeutschland ausfallen – einer Region, die kaum Kohlekraftwerke hat. Außerdem bremst das anhaltende Niedrigwasser der Flüsse den Kohlennachschub für Kraftwerke in ganz Deutschland aus, diese können daher nicht auf voller Leistung laufen. Ein Viertel bis die Hälfte der sogenannte Netzreserve aus schnell zuschaltbaren Kraftwerken ist nicht verfügbar.
Außerdem ist in den Stresstest-Szenarien ein Teil der französischen Atomkraftwerke auch bis zum Winter nicht wieder am Netz, was die Möglichkeit für Stromimporte begrenzt. Zu guter Letzt kommt es wegen eines kalten Winters, hoher Gaspreise und dem vermehrten Heizen mit elektrischen Heizlüftern zu Verbrauchsspitzen im Gigawattbereich.
„Krisenhafte Situation sehr unwahrscheinlich, aber nicht auszuschließen“
Dieser zweite Stresstest für den Winter 2022/23 ergab: Eine stundenweise krisenhafte Situation im deutschen Stromnetz ist zwar sehr unwahrscheinlich, kann aktuell aber nicht vollständig ausgeschlossen werden. Konkret heißt dies, dass es in einigen Regionen Europas vorkommen kann, dass die Nachfrage vorübergehend nicht gedeckt werden kann – weil es beispielsweise nicht genug kurzfristig zuschaltbare Netzreserven gibt. In den beiden extremsten Szenarien könnte es dadurch auch in Deutschland für einige Stunden zu einem Strommangel kommen.
Das allerdings bedeutet noch nicht, dass es deswegen einen Blackout gibt. Wahrscheinlicher ist es, dass dann größere Verbraucher wie Aluminiumhütten, Chemiewerke und andere Industrieanlagen kurzfristig nicht mehr versorgt und vorübergehend vom Netz abgekoppelt oder gedrosselt werden müssen. „Es ist weiterhin sehr unwahrscheinlich, dass es zu Krisensituationen und Extremszenarien kommen wird“, betonte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck bei der Vorstellung der Ergebnisse am 5. September 2022. „Aber wir sind Teil eines europäischen Systems, und dieses Jahr ist in ganz Europa ein besonderes Jahr.“
Mehrere Maßnahmen gegen den Strommangel
Insgesamt kam der zweite Stresstest zu dem Ergebnis, dass aus Gründen der Vorsorge ein Bündel von zusätzlichen Maßnahmen nötig ist, um Netzengpässe zu vermeiden. Als eine dieser Maßnahmen wurde beschlossen, zwei der drei noch laufenden Atomkraftwerke in Deutschland als Netzreserve zu nutzen. Isar 2 und Neckarwestheim werden zwar Ende des Jahres regulär vom Netz gehen und auch keine neuen Brennstäbe bekommen. Sie bleiben aber bis April 2023 für einen Notfalleinsatz verfügbar. Dieser soll vor allem im weniger gut mit erneuerbaren Energien versorgten Süddeutschland eventuelle Notsituationen abwenden.
Allerdings liegt die sogenannte Redispatch-Kapazität der drei Atomkraftwerke laut Angaben des BMWI nur bei insgesamt 0,5 Gigawatt. Im extremsten Szenario könnten jedoch für das deutsche Stromnetz gut fünf Gigawatt zusätzlich gebraucht werden. Sie müssten dann vor allem konventionelle Netzreserven und durch Stromimporte aus dem Ausland gedeckt werden.
Als weitere Maßnahmen gegen Strom-Engpässe hat die Bundesregierung zudem veranlasst, dass die Kohle- und Ölkraftwerke der sogenannten Netzreserve sowie einige schon vom Netz genommene Kohlekraftwerke im Winter 2022/23 wieder ans Stromnetz gehen sollen. Das erhöht die Kapazität um 5,9 bis acht Gigawatt, wie das Bundeswirtschaftsministerium mittteilte. Um den Nachschub dieser Kraftwerke mit Kohle und Mineralöl auch bei niedrigen Pegeln der Flüsse zu sichern, wurde zudem veranlasst, dass Züge mit diesen Gütern in den nächsten sechs Monaten im Schienennetz Vorrang erhalten.
Blackout durch einen Cyberangriff?
Gefährdet ist das deutsche Stromnetz aber nicht nur durch eine möglichen Strommangel – auch Cyberangriffe können die Stromversorgung eines ganzen Gebiets oder sogar Landes lahmlegen. Wie real die Gefahr von Hackerangriffen auf die Strom-Infrastruktur ist, zeigte sich im April 2022. Damals versuchte ein russisches Hackerkollektiv mithilfe von Schadsoftware, die Umspannwerke in der Ukraine lahmzulegen. Es gelang gerade noch, den Angriff abzuwehren. Noch 2015 hatte ein ähnlicher Angriff der gleichen Hackergruppe ein Kontrollzentrum und 30 Umspannwerke in der Ukraine lahmgelegt, fast 700.000 Menschen waren ohne Strom.
„Der Sektor Energie stellt aktuell ein besonders attraktives Angriffsziel für Cyber-Attacken dar“, erklärte dazu unlängst das Bundesamt für Informationssicherheit (BSI). In Deutschland ist es laut BSI aber bisher nicht zu einem größeren Stromausfall durch eine Cyberattacke gekommen. Allerdings beobachten Netzbetreiber in den letzten Jahren und speziell seit Beginn des Ukrainekrieges eine verstärkte Hackeraktivität – auch bei Systemen der Stromversorgung. Bislang kam es aber dadurch nur zu kleineren IT- Sicherheitsvorfällen ohne schwerwiegendere Auswirkungen, so das BSI. Dennoch schließen die IT-Experten nicht aus, dass sich das ändern könnte – und mahnen zu verstärkter Wachsamkeit.