Klima

Klima: Kippelemente instabiler als gedacht

Schon bei 1,5 Grad Erwärmung könnten fünf Kipppunkte überschritten werden

Kipppunkte
Schon bei geringer weiterer Erwärmung könnten viele Kippelemente im Klimasystem ihren kritischen Schwellenwert erreichen und umkippen. © Globaia for the Earth Commission/ PIK, SRC und Exeter University

Umkippen unausweichlich? Das Erdklima könnte schon jetzt seinen stabilen Zustand verlassen haben. Denn die Kipppunkte im Klimasystem reagieren offenbar sensibler als angenommen, wie neue Analysen nahelegen. Demnach könnten fünf entscheidende Systeme ihre kritische Kipp-Schwelle bereits überschritten haben. Weitere Kippelemente könnten schon ab 1,5 Grad in einen neuen Zustand wechseln – und einen für Mensch und Natur folgenreiche Kaskadeneffekt auslösen, wie Klimaforscher in „Science“ berichten.

Unser Klimasystem befindet sich in einem fragilen Gleichgewicht: Unzählige Rückkopplungen und komplexe Kontrollmechanismen sorgen dafür, dass das Erdklima in den letzten Jahrtausenden nur wenig um den Mittelwert schwankte. Doch es gibt Kippelemente im System, die bei Überschreiten eines Schwellenwerts abrupt in einen neuen Zustand wechseln. Wird dieser Kipppunkt erreicht, kann dies Rückkopplungs-Kaskaden auslösen, die das gesamte Klimasystem aus dem Gleichgewicht bringen können.

Kippelemente
Globale Kippelemente (a) und Kippelemente mit primär regionaler Bedeutung (b). © Earth Commission/ PIK, SRC und Exeter University

Wann ist die kritische Schwelle erreicht?

Klimaforscher haben bisher neun globale Kippelemente und sieben weitere mit regionaler Bedeutung identifiziert. Zu den globalen Stellgliedern gehören unter anderem die Eisschilde Grönlands und der Antarktis, der Amazonasregenwald, die Nordatlantische Umwälzströmung (AMOC), das arktische Meereis, der Permafrost und die tropischen Korallenriffe. Beispiele für regionale Kippelemente sind der Monsun, die Berggletscher und boreale Wälder. Schon länger gibt es für einige dieser Systeme Hinweise darauf, dass sie sich ihrem Kipppunkt nähern.

Jetzt gibt es neue Informationen darüber, ob und wann ein Umkippen dieser essenziellen Stellglieder im Klimasystem droht. Für ihre Studie haben David Armstrong McKay von der Universität Stockholm und seine Kollegen mehr als 200 Studien zu paläoklimatischen und aktuellen meteorologischen und klimatologischen Messdaten ausgewertet und auf ihrer Basis Klimasimulationen durchgeführt. „Dies ist die erste umfassende Neubewertung aller potenziellen Kippelemente, ihren Kipppunkten und den Zeitskalen und Folgen ihres Umkippens“, so das Team.

Gleichgewicht schon jetzt gestört

Das Ergebnis ist wenig erbaulich: „Unsere Analyse der Kippelemente und ihrer Kipppunkte deutet darauf hin, dass die Bedrohung näher ist als gedacht“, berichten McKay und seine Kollegen. „Die Erde könnte den sicheren Klimazustand schon beim Überschreiten von einem Grad Erwärmung verlassen haben.“ Laut aktuellem Weltklimabericht liegt die globale Mitteltemperatur zurzeit 1,1 Grad über den präindustriellen Werten, bei den Landflächen sind es bereits 1,6 Grad Erwärmung.

Konkret ermittelte das Team, dass fünf Kippelemente schon jetzt die kritische Schwelle erreicht haben könnten: „Wir sehen Anzeichen der Destabilisierung bei den Eisschilden der Westantarktis und Grönlands, beim Amazonas-Regenwald, in einigen Permafrost-Regionen und wahrscheinlich auch der Atlantischen Umwälzströmung“, berichtet McKay. Auch die tropischen Korallen könnten bereits ihren Kipppunkt erreicht haben. Bei diesen Systemen liege der Kipppunkt höchstwahrscheinlich zwischen 1,1 und 1,5 Grad.

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Wahrscheinliche Lage der Schwellenwerte für verschiedene Kippelemente. © Earth Commission/ PIK, SRC und Exeter University

Ab 1,5 Grad häufen sich die Kipppunkte

Bei Überschreiten des 1,5-Grad-Klimaschutzziels könnten weitere Kipppunkte dazu kommen: „Zwischen 1,5 und zwei Grad Erwärmung folgt in den Erdsystemmodellen ein ganzer Cluster weiterer Verschiebungen“, berichten die Wissenschaftler. Dazu gehören unter anderem der Verlust nichtpolarer Gletscher und fundamentale Veränderungen der borealen Wälder. Ab einer globalen Erwärmung um zwei Grad steigt die Wahrscheinlichkeit für das Umkippen von vier weiteren Kippelementen.

Wie lange es dauert, bis die Folgen eines Umkippens spürbar werden, hängt dabei von der Art des Kippelements ab: Einige, wie das Verschwinden des Amazonas-Regenwalds oder der Kollaps der Atlantischen Umwälzströmung, könnten sich in nur wenigen Jahrzehnten manifestieren. Andere Prozesse, wie das Tauen des Permafrosts oder das Abschmelzen der großen Eisschilde, können Jahrhunderte dauern. Ist die auslösende Schwelle aber einmal überschritten, wird ihr Wandel unaufhaltsam und unumkehrbar sein.

Zehn Kipppunkte drohen – mindestens

Insgesamt bedeutet dies, dass beim aktuellem Klimakurs ein Großteil der für Kippelemente kritischen Schwellenwerte erreicht werden könnte: „Bei den mit aktuellen Verpflichtungen erreichbaren rund 2,6 Grad Erwärmung werden zehn Kipppunkte wahrscheinlich erreicht, das Umkippen von sechs weiteren Kippelementen wird möglich“, konstatieren McKay und seine Kollegen. Selbst das setzt jedoch voraus, dass die bisher von den Ländern beschlossenen Klimaschutzziele auch umgesetzt werden.

Hinzu kommt: „Viele Kippelemente im Erdsystem sind miteinander verknüpft“, erklärt Koautorin Ricarda Winkelmann vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Das bedeutet, dass das Umkippen eines Stellglieds auch andere Kippelemente „mitreißen“ kann. Diese Wechselwirkungen hat das Forschungsteam bei ihrer Analyse noch nicht mit eingeschlossen, sie könnten die Gefahr aber noch vergrößern. „Kaskadierende Kipppunkte sind daher ein Grund ernsthafter Sorge“, so Winkelmann.

„Jedes Zehntel Grad zählt“

Nach Ansicht der Wissenschaftler verdeutlichen ihre Ergebnisse, wie dringend ein schneller und effektiver Klimaschutz ist: „Die Welt steuert zurzeit auf zwei bis drei Grad Erwärmung zu. Dies bringt die Erde auf einen Kurs, der zahlreiche gefährliche Kipppunkte überschreiten wird – mit desaströsen Folgen für Menschen in der ganzen Welt“, sagt Koautor Johan Rockström vom PIK. „Um gute Lebensbedingungen auf der Erde zu erhalten, die Menschen vor zunehmenden Extremen zu schützen und stabile Gesellschaften zu ermöglichen, müssen wir alles tun, um das Überschreiten von Kipppunkten zu verhindern. Jedes Zehntelgrad zählt.“

Doch selbst wenn es noch gelingt, die Klimaschutzziele des Pariser Klimaabkommens umzusetzen, könnte es für einige Kippelemente schon zu spät sein. „Wir werden uns wahrscheinlich daran anpassen müssen, mit den Folgen einiger schon unvermeidbarer Kipppunkte zurechtzukommen“, erklärt Koautor Tim Lenton von der University of Exeter. (Science, 2022; doi: 10.1126/science.abn79509)

Quelle: Stockholm University

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