Kein Mythos: Eine 650 Jahre alte Karte und walisische Legenden zeugen von untergegangenen Inseln und Landstrichen vor der Küste von Wales. Zwei Forscher haben diese Spuren zurückverfolgt und nach einer geologischen Erklärung dafür gesucht – mit überraschenden Ergebnissen. Demnach könnte die letzte Eiszeit tatsächlich bis zu 30 Meter hohe Ablagerungen in der Cardigan Bay aufgetürmt haben, die erst allmählich von der Erosion abgetragen wurden. Dies veränderte die Küstenlinie und zerstörte auch die Inseln.
Es ist kein Zufall, dass es in vielen Kulturen Legenden von untergegangenen Landstrichen und versunkenen Reichen gibt: Als vor rund 10.000 Jahren die letzte Eiszeit endete, ließ das Schmelzwasser der tauenden Eismassen die weltweiten Meeresspiegel um mehr als 100 Meter ansteigen. Als Folge versanken viele zuvor trockene Küstenregionen im Meer – darunter auch die Landverbindung zwischen Europa und Großbritannien, das eiszeitliche Doggerland.
Doch auch später veränderten weiter steigende Meeresspiegel die Küstenlinien und ließen beispielsweise römische Siedlungsspuren in der Lagune von Venedig oder griechische Hafenanlagen im Meer versinken. Die Insel Rungholt in der Nordsee ging noch im Mittelalter durch eine Kombination aus Meeresspiegelanstieg und Sturmflut unter.
Eine 650 Jahre alte Karte und zwei „verschwundene“ Inseln
Einen weiteren Fall versunkener Inseln und Landstriche könnten nun Simon Haslett und David Willis von der University of Oxford aufgedeckt haben. Ausgangspunkt ihrer Studie war die sogenannte Gough Map, eine Karte der Britischen Inseln aus dem 14. Jahrhundert, die in der Bodleian Library in Oxford aufbewahrt wird. Sie zeigt an der Küste von Wales eine auffallende Abweichung von der heutigen Geografie:
Statt der großen, halbmondförmigen Cardigan Bay ist auf der 650 Jahre alten Karte eine fast gerade Küstenlinie mit zwei vorgelagerten ovalen Inseln zu erkennen. Sie liegen parallel zur Küste im zentralen Bereich der heutigen Cardigan Bay, zwischen den heutigen Städten Aberysthwyth und Barmouth. Ausgehend von der Lage der eingezeichneten Flussmündungen schätzen die beiden Forscher, dass die beiden Inseln rund vier Kilometer vor der Küste lagen und zwischen sechs und zehn Kilometer lang waren.
Versunkenes Land?
Doch was hat es mit diesen beiden „verschwundenen“ Inseln auf sich? Bisher gingen Wissenschaftler davon aus, dass die Gough-Karte in Bezug auf die Geografie dieses Küstenabschnitts ungenau war und mehr auf Fantasie als Realität beruhte. Andererseits gibt es viele keltische Legenden, in denen von versunkenen Landstrichen vor der walisischen Küste die Rede ist. „Diesen Legenden zufolge gab es im Gebiet der heutigen Cardigan Bay einst ein verlorenes oder versunkenes Land, das als Cantre’r Gwaelod – tiefe Ebene – oder als Maes Gwydnno – Ebene von Gwydnno – bezeichnet wurde“, berichten die Forscher.
Auch der römische Gelehrten Claudius Ptolemäus verortete die Küstenlinie der Cardigan Bay in seinem Werk „Geographia“ aus dem Jahr 150 noch deutlich weiter westlich als heute. Um nach einen potenziell wahren, geologischen Kern dieser Berichte und Legenden zu suchen, untersuchten Haslett und Willis die Bathymetrie und Geologie des Meeresgrunds in der Cardigan Bay noch einmal genauer und suchten nach möglichen Spuren vergangener Absenkungen oder Erosion.
Eiszeitliches Geröll
Tatsächlich wurden die Wissenschaftler fündig: An drei Stellen in der Cardigan Bay gibt es unterseeischen Erhebungen, die parallel zum Land verlaufen und bis zu zwei Meter unter den Meeresspiegel hinaufreichen. „Die Spitze der lokal als Sarn Badrig – Patricks Damm – bekannten Rippe ist sogar hoch genug, um bei Ebbe freizuliegen“, berichtet das Team. Diese Erhebung liegt allerdings deutlich nördlich der auf der Gough Map eingezeichneten Inseln.
Interessant jedoch: Der Meeresgrund vor der walisischen Küste und auch die Küste selbst sind von relativ lockeren eiszeitlichen Ablagerungen geprägt. Diese zeigen deutliche Anzeichen für eine starke Erosion durch Meer und Wellen – bis heute weicht die Küste dadurch um rund einem Meter pro Jahr zurück, wie die Geologen berichten. „Auch alle einst dort vorhandenen Inseln müssen aus solchen nicht verfestigten pleistozänen Ablagerungen bestanden haben“, so Haslett und Willis. Die Inseln waren demnach ebenfalls anfällig für die Meereserosion.
Landverlust durch Erosion?
Nach Ansicht der beiden Forscher sprechen diese geologischen Gegebenheiten dafür, dass die historischen Überlieferungen einen wahren Kern haben könnten: Nach der Eiszeit haben die zurückweichenden Gletscher tatsächlich Geröll hinterlassen, das das Gebiet der Cardigan Bay auffüllte. Im Laufe der Jahrtausende trug die Erosion dann dieses Schwemmland nach und nach ab. Die alten keltischen Legenden könnten diesen allmählichen Untergang in ihre Sagen integriert haben.
Dort, wo heute noch die Erhebungen im Meeresgrund aufragen, konnte das eiszeitliche Geröll der Meereserosion länger widerstehen und blieben daher bis in die Antike oder sogar das Mittelalter bestehen. „Die beiden ‚verlorenen‘ Inseln waren Relikte eines größeren Tiefland Gebiets, das früher die Cardigan Bay einnahm“, erklären Haslett und Willis. Sie könnten damals noch 15 bis 25 Meter über den Meeresspiegel hinausgeragt haben.
„Überschwemmungen und die anhaltende Abtragung ließ dann die beiden verbliebenen Inseln bis zum 16. Jahrhundert ganz verschwinden“, so das Team. „Dieser Prozess der Erosion und des Landverlusts setzt sich noch heute in den Küstenbereichen mit unterliegenden Ablagerungen aus dem Pleistozän fort.“ Nach Meinung der beiden Wissenschaftler sind daher die walisischen Legenden von versunkenen Landstrichen und auch die Gough Karte möglicherweise historisch verlässlicher als landläufig angenommen. (Atlantic Geoscience, 2022; doi: 10.4138/atlgeo.2022.005)
Quelle: Atlantic Geoscience