Rätsel gelöst? Ein „verlorener“ Mond könnte erklären, wie der Saturn seine Ringe bekam und warum seine Rotationsachse heute so stark taumelt. Demnach geriet der hypothetische Saturnmond Chrysalis vor 160 Millionen Jahren aus seiner Bahn und wurde von der Schwerkraft des Saturns zerrissen. Dies veränderte die Rotationsachse des Planeten, brach seine Resonanz mit Neptun und erzeugte genug Trümmer, um die Ringe zu bilden, wie Forschende in „Science “ berichten. Das könnte auch erklären, warum die Saturnringe so ungewöhnlich jung sind.
Der Saturn ist einzigartig im Sonnensystem: Kein anderer Planet besitzt ein so massereiches und komplexes Ringsystem wie er. Gleichzeitig sind die dichten Gürtel aus eisigen Brocken ungewöhnlich jung: Sie entstanden nicht gemeinsam mit dem Ringplaneten, sondern erst vor rund 100 Millionen Jahren, wie neuere Messdaten nahelegen. Das wirft die Frage auf, wie die Ringe entstanden sind.
Das Rätsel der gekippten Achse
Und noch eine Eigenheit hat der Saturn: Seine Ringe und die Rotationsachse sind gegenüber seiner Bahn um die Sonne um 26,7 Grad geneigt und „eiern“ relativ stark. „Diese Neigung ist zu groß, um durch bekannte Bildungsprozesse in der protoplanaren Scheibe oder durch frühe Einschläge auf dem Planeten entstanden zu sein“, erklärt Erstautor Jack Wisdom vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). „Es wurden schon verschiedenen Erklärungen dafür vorgeschlagen, aber keine ist vollkommen überzeugend.“
Eine Theorie besagt, dass Schwerkraft-Wechselwirkungen des Saturn mit dem Planeten Neptun für seine Achsneigung verantwortlich sind. Denn die Saturnachse taumelt ungefähr im Gleichtakt mit der Orbitalperiode des Neptun – das könnte auf einen Resonanz-Effekt hindeuten. Diese gravitative Kopplung wiederum könnte die Rotationsachse des Saturn im Laufe der Zeit in ihre heutige Schräglage gebracht haben – so die bisherige Annahme.
Knapp außerhalb der Resonanz
Ob die Resonanz-Theorie stimmt, hängt allerdings entscheidend von einem Parameter ab: dem Drehimpuls des Saturn. Er beeinflusst, wie leicht ein Planet durch äußere Einflüsse aus seiner Ausrichtung zu bringen ist. „Wenn der Drehimpuls sehr groß ist, dann befindet sich das System in Resonanz und der Neptun könnte erklären, warum der Saturn sich seitlich dreht“, erklärt Koautor Burkhard Militzer von der University of California in Berkeley. „Wenn aber der Drehimpuls kleiner ist, dann fällt das ganze Szenario auseinander und man muss nach einer anderen Theorie suchen.“
Deshalb haben Wisdom, Militzer und ihr Team nun den Drehimpuls des Saturns anhand von Messdaten der NASA-Raumsonde Cassini und einem Modell noch einmal bestimmt. Das überraschende Ergebnis: Die beiden Planeten sind nicht in Resonanz. „In allen Modellannahmen und für alle Rotationsperioden liegt das System zwar in der Nähe der Resonanzregion, aber knapp außerhalb“, berichten Wisdom und seine Kollegen. Ihren Daten zufolge beträgt die Abweichung rund ein Prozent.
Daraus schließen die Planetenforscher, dass Saturn und Neptun tatsächlich lange Zeit in einer Resonanz waren. Diese muss aber innerhalb der letzten rund 200 Millionen Jahre gebrochen worden sein.
Ist ein verlorener Mond schuld?
Aber wodurch? Um das herauszufinden, rekonstruierten die Forschenden die vergangene Entwicklung des Ringplaneten und seiner Nachbarn im Modell. Dabei prüften sie zunächst, ob vielleicht Bahnveränderungen der Saturnmonde zum Resonanzbruch geführt haben könnten. Es zeigte sich: Zwar hat sich der Saturnmond Titan tatsächlich im Laufe der Zeit nach außen bewegt, aber das allein reichte nicht aus, um die Resonanz von Saturn und Neptun zu brechen.
Bleibt noch eine zweite Erklärung: „Das System könnte der Resonanz entfliehen, wenn der Saturn einst einen zusätzlichen Mond besaß, der dann verloren ging“, erklärt Militzer. Dieser verlorene Trabant könnte entweder durch Schwerkraftturbulenzen aus dem System geschleudert worden sein oder er kam dem Saturn zu nahe und wurde von dessen Gezeitenkräften zerrissen. Beides könnte theoretisch die Synchronisation zwischen Neptunbahn und Saturnachse brechen.
Aus der Bahn gedrängt
Das Szenario rekonstruieren Wisdom und sein Team auf Basis ihrer Modelle so: Der von ihnen „Chrysalis“ getaufte Mond war ungefähr so groß und schwer wie Iapetus, der drittgrößte Mond des Saturn. Dieser hat einen Durchmesser von rund 1.470 Kilometern. Die Umlaufbahn von Chrysalis müsste zwischen Titan und Iapetus gelegen haben und war lang Zeit stabil. Dann jedoch begann der Titan, immer weiter nach außen zu driften.
Vor rund 100 bis 200 Millionen Jahren führte dies dazu, dass der Orbit von Chrysalis instabil wurde – der Mond geriet aus der Bahn. In den Simulationen führte dies in einem Teil der Durchgänge zum Ausschleudern des Monds aus dem System. In anderen Durchgängen kam der hypothetische Mond dem Saturn dadurch zu nahe und wurde von dessen Gezeitenkräften zerrissen. „In beiden Fällen wäre der Saturn dadurch aus der Resonanz gefallen“, berichten die Forscher.
Erklärung für die jungen Ringe
Und nicht nur das: Weil ein Teil der Mondtrümmer im Orbit um den Saturn blieb, entstanden dadurch auch die Ringe. „Das Coole daran ist, dass unser Szenario damit das zuvor unerklärte geringe Alter der Saturnringe gleich mit erklärt“, sagt Wisdom. Die eisreichen Ringe wären demnach Relikte eines früheren großen Eismonds des Saturn. Damit würden die Existenz des hypothetischen Monds Chrysalis und seine Zerstörung gleich mehrere Eigenheiten des Saturnsystems erklären.
Dieses Szenario hält auch die nicht an der Studie beteiligte Planetenforscherin Maryame El Moutamid von der Cornell University für durchaus denkbar: „Wisdom und Team liefern einen plausiblen Erklärungsmechanismus für die Nähe des Saturn zu einer Präzessions-Resonanz mit Neptun und für seine jungen Ringe“, schreibt sie in einem begleitenden Kommentar. Allerdings räumen auch Wisdom und seine Kollegen ein, dass das Szenario nun noch weiter überprüft werden muss. (Science, 2022; doi: 10.1126/science.abn1234)
Quelle: Science, Massachusetts Institute of Technology, University of California Berkeley