Schildkröten (Testudinata) sind ein Erfolgsmodell der Evolution – sie existieren schon seit 220 Millionen Jahren, wie Fossilienfunde belegen. Damit entwickelten sie sich bereits zur Zeit der Dinosaurier und leben als kaum veränderte Urtiere noch heute.
Rätsel um den Ursprung der Schildkröten
Doch wie diese Überlebenskünstler entstanden sind, war lange strittig. Zunächst gingen Wissenschaftler davon aus, dass die Urahnen der Schildkröten zu den primitiven Reptilien, den sogenannten Anapsiden, gehören müssten. Diese trugen im Gegensatz zu Krokodilen oder Schlangen in ihrem Schädel keine zusätzlichen Öffnungen hinter den Augen. Diese Vermutung zu beweisen, war aber kaum möglich, da es nur wenige Fossilien von möglichen Übergangsformen gab.
Ein spektakulärer Fund im Jahr 2015 widersprach den Annahmen jedoch von Grund auf: In Vellberg in Baden-Württemberg haben Forscher Fossilien einer 240 Millionen Jahre alten Ur-Schildkröte ausgegraben, deren Panzer noch nicht vollständig geschlossen und deren Schädel gut erhalten war. „Das geologische Alter der Ur-Schildkröte passt genau in die zeitliche Lücke, in der man solche Übergangsformen erwartet hatte“, so Rainer Schoch vom Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart.
Bei näheren Untersuchungen zeigte sich, dass diese Ur-Schildkröte zwei große Öffnungen auf Schläfenhöhe im Schädelknochen besaß. Ihre Kiefer waren noch zahnbewehrt – heutige Schildkröten besitzen dagegen eine schnabelähnliche Kauleiste. Im Rücken hatte der Schildkröten-Urahn bereits verbreiterte, T-förmige Rippen. Seine kompakten Bauchrippen waren jedoch noch nicht zu einem Panzer verschmolzen.
Die Erkenntnis daraus: Mit diesen Merkmalen bildet die neue Art ein perfektes Bindeglied zwischen den frühen Echsen und den Schildkröten, sie ist ein Missing Link. Anhand der Anatomie stellen die Paläontologen nun den Ursprung der Schildkröten also nicht mehr an die Basis der Reptilien, sondern in die nähere Verwandtschaft der Echsen, Krokodile und Vögel. Denn auch sie besitzen zwei Schädelfenster und gehören damit zu den sogenannte diapsiden Reptilien.
Wie die Tiere zu ihrem Panzer kamen
Der Fund löste aber noch ein weiteres Rätsel: Wie der damals wie heute charakteristische Panzer der Schildkröten entstanden ist. In der Vergangenheit ging man davon aus, dass sich das starre Gebilde aus sogenannten Osteodermen entwickelt haben könnte. Dabei handelt es sich um die knöchernen Hautschuppen, aus denen auch die Haut einiger heute lebenden Reptilien wie beispielsweise der Krokodile besteht und aus denen sich vermutlich auch die Haut der Dinosaurier zusammensetzte.
Doch diese Vermutung wurde widerlegt: Bei den Schildkröten hat sich laut der Fossilien aus Vellberg zuerst der Bauchpanzer entwickelt – und zwar aus den Rippen der Tiere. Diese Erkenntnis lieferte auch ein in China in der Provinz Guizhou entdecktes 220 Millionen Jahre altes Fossil einer weiteren Urzeit-Schildkröte. Olivier Rieppel, Leiter der Geologischen Abteilung des Chicagoer Field Museums, und seine chinesischen und kanadischen Kollegen hatten bei Analysen des Funds festgestellt, dass auch dieses Relikt eine noch unvollständige Schutzschale besaß, die ein Fortsatz der Wirbelsäule und Rippen war.
Die Entdeckung passt auch zu Untersuchungen der Embryonalentwicklung von heutigen Schildkröten: Sie zeigen, dass sich bei diesen die Wirbelsäule und Rippen allmählich verbreitern und dann verschmelzen.
Vom Wasser an Land
Doch warum hat sich die Entwicklung dieses starren Gebildes bei den Schildkröten überhaupt durchgesetzt? Welchen Überlebensvorteil kann der Panzer haben, obwohl er den Körper der Schildkröten abflacht und versteift und dadurch den Gang der Tiere verlangsamt?
Auch dafür haben Wissenschaftler heute eine Antwort: Die entdeckten urzeitlichen Schildkröten-Arten lebten vermutlich ähnlich wie heutige Galapagosechsen vorwiegend im Wasser. Die schwer gebauten Rippen und Bauchrippen ermöglichten es ihnen dabei, tiefer zu tauchen und vielleicht länger im Wasser zu bleiben als gewöhnliche Echsen.
Zudem schützte der Halbpanzer beim Schwimmen in Oberflächennähe den empfindlichen Bauch vor Angriffen durch Fressfeinde von unten. „Reptilien, die auf dem Land lebten, hatten ihre Bäuche nah am Boden und waren dadurch weniger Gefahr ausgesetzt“, so Rieppel. Nach Ansicht der Forscher deutet dies also darauf hin, dass der Schildkrötenpanzer ursprünglich im Wasser entstanden sein könnte und die Schildkröten erst später das Land erobert haben.
Auch an Land praktisch?
Es könnte aber bald darauf auch halbpanzerige Landschildkröten gegeben haben, wie ein internationales Forscherteam um Tyler Lyson vom Denver Museum of Nature and Science festgestellt hat. Denn der Bauchpanzer könnte auch an Land erste Überlebensvorteile geboten haben: Möglicherweise diente der halbe Schildkrötenpanzer ursprünglich als „Grabungshilfe“.
Urzeitliche Landschildkröten oder zumindest ihre Vorfahren lebten laut Forschenden vermutlich in trockenen Gebieten, die von harten Böden gekennzeichnet waren. Dort war es schwierig, mit den Krallen an den Vordergliedmaßen zu graben. Es brauchte also Werkzeuge: Der versteifte Brustkorb, könnte als harte Basis gedient haben, um kräftiger und effektiver graben zu können, so die Vermutung von Lyson und seinem Team.