Phänomene

Gruß aus der Vorzeit

Rudimente als Brücke zu unseren Urahnen

Unsere Vorfahren lebten in einer vollkommen anderen Welt als wir. Einer Welt voller Gefahren, Naturgewalten und Raubtiere. Ihre Körper waren daran angepasst, diesen Strapazen erfolgreich zu trotzen. Frühe primatenähnliche Urahnen fanden dank starker Griffkraft und zum Klettern geeigneter Schwänze auf Bäumen Schutz vor Raubtieren. Dichtes Fell hielt sie warm. Als die Evolution hin zum modernen Menschen voranschritt, wurden solche Merkmale weniger nützlich und bildeten sich zurück – aber oft nicht komplett.

Walskelett
Wale besitzen immer noch Reste eines Beckengürtels, hier unter „C“ abgebildet. © Historisch: Meyers Konversionlexikon 1888

Vom Baum in den Großstadt-Dschungel

Wir tragen immer noch sichtbare Teile unserer fernen Vorfahren in uns. Aus Fell wurde Körperbehaarung, aus dem Schwanz das Steißbein. Solche Überbleibsel aus der Entwicklungsgeschichte nennen sich Rudimente. Sie kommen bei vielen Lebewesen in großer Zahl vor. Rudimente sind Strukturen, die im Laufe der Zeit ihre ursprüngliche Aufgabe verloren haben. Typischerweise sind sie deshalb verkümmert, wie zum Beispiel die Augen von blinden Höhlenfischen, oder haben sich extrem verkleinert, wie die Flügel von Kiwis und Emus.

Rudimente müssen aber nicht völlig funktionslos sein. Sie können auch eine neue Aufgabe übernehmen und ihren Trägern dadurch nützlich sein. So besitzen etwa Wale trotz ihrer aquatischen Lebensweise immer noch rudimentäre Reste des Beckengürtels ihrer landlebenden Vorfahren. Sie stützen das Tier schon lange nicht mehr beim Laufen, aber dienen dafür stattdessen als wichtiger Ankerpunkt für daran ansetzende Muskeln.

Evolution im Rückwärtsgang

Rudimente sind Zeugen regressiver Evolution. Um sich optimal an einen Lebensraum anzupassen, sind nämlich nicht immer evolutive Neuheiten der beste Weg. Manchmal erhöht auch die Rückbildung bereits entwickelter Merkmale die Fitness einer Art. Diese „Evolution im Rückwärtsgang“ lässt sich unter anderem bei Parasiten beobachten, die eigene Körperteile zurückgebildet haben, um sich auf ein Leben von ihrem Wirt zu spezialisieren. So fehlen etwa Läusen die Flügel oder Bandwürmern der Darm.

Regressive Evolution ist auch der Mechanismus, durch den sich bei Schlangen die Extremitäten und bei Landwirbeltieren die Kiemen zurückgebildet haben. Regressive Evolution findet statt, sobald ein Merkmal seine Funktion verliert und dadurch nicht mehr der sogenannten stabilisierenden Selektion unterliegt. Stabilisierende Selektion ist Selektion nach Mittelwerten. Ein Beispiel: Vögel mit zu großen oder zu kleinen Flügen haben Probleme beim Fliegen, weshalb sich langfristig mittelgroße Flügel etablieren. Erfordern die Umweltzustände es aber, dass die Flügel ihre Flugfunktion einbüßen, wie etwa bei Emus, ist auch die Größe der Flügel nicht mehr von Bedeutung und die stabilisierende Selektion greift bei ihnen nicht mehr.

Stattdessen fangen die betroffenen Organe an, zu verkümmern und sich zurückzubilden. Der Hintergrund: Es kostet viel Energie, wenn ein Embryo im Mutterleib Körperteile ausbildet, die ihm später ohnehin wenig nutzen. Es setzen sich langfristig also jene Individuen durch, die schon mit einem zurückgebildeten Körperteil auf die Welt kommen. Irgendwann entwickelt sich dadurch eine ursprünglich flugfähige Vogelart zu Laufvögeln. Oder kletterbegabte Primaten zum aufrecht gehenden Menschen. Indem wir die Rudimente heutiger Arten erforschen, können wir diese Entwicklungsprozesse zurückverfolgen und einen Blick in die Vergangenheit werfen.

Rudimenten auf der Spur

Eine rudimentäre Struktur als solche zu identifizieren, ist jedoch nicht immer leicht. Forschende suchen dafür den Vergleich mit verwandten Arten und betrachten, wie diese das betroffene Organ nutzen. Da die meisten Vögel ihre Flügel zum Fliegen nutzen, ist Fliegen die primäre Funktion der Flügel. Weichen die Flügel einzelner Arten wie beim Strauß oder dem Emu von dieser Primärfunktion ab, gelten sie bei ihnen als rudimentär. Die Einstufung als Rudiment erfolgt, wenn ein Organ im Vergleich zu mindestens zwei anderen, eng verwandten Arten seine ursprüngliche Funktion scheinbar verloren hat.

Emu
Die Flügel des Emus verkümmerten im Zuge regressiver Evolution. © JJ Harrison/ CC-by-sa 4.0

Diese Klassifizierung birgt Herausforderungen. Es ist nämlich nicht immer eindeutig, worin genau die ursprüngliche Funktion liegt. Besonders bei Arten, deren einzige Verwandte nur als Fossilien überliefert sind, lässt sich nicht final sagen, wofür das entsprechende Organ einst diente. Dieses Hindernis können Wissenschaftler manchmal mit Experimenten oder (digitalen) Modellierungen umgehen, die mehr über die Funktionsweise der Strukturen verraten.

Alle oder wenige?

Um ein rudimentäres Merkmal als solches zu identifizieren, muss man außerdem beachten, dass Rudimente ausschließlich auf der Ebene der Arten, nicht der Individuen angesiedelt sind. So ist es für den Menschen typisch, ein Steißbein als Überbleibsel aus der Vergangenheit zu besitzen. Würde dieses nur extrem selten bei einzelnen Personen wieder auftauchen, würde man es nicht als Rudiment, sondern als Atavismus bezeichnen.

Ein Atavismus ist eine Art „Rückschlag“ in der Entwicklung, bei der ein Merkmal entfernter Ahnen bei vereinzelten Individuen wieder auftaucht. So kommt es zum Beispiel hin und wieder vor, dass Kinder mit einem kleinen, wirbellosen Schwanzfortsatz oder einer fellartigen Körperbehaarung auf die Welt kommen. Auslöser für Atavismen sind unter anderem Mutationen oder Störungen bei der Embryonalentwicklung.

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Evolution im Rückwärtsgang
Das rudimentäre Erbe des Menschen

Gruß aus der Vorzeit
Rudimente als Brücke zu unseren Urahnen

Nichts als Ärger?
Rudimente als Unruhestifter

Ist das noch nützlich oder kann das weg?
Rudimente zwischen Restfunktion und Überflüssigkeit

„Affiges“ Verhalten
Auch Reflexe unserer Urahnen haben überdauert

Die Rudimente der Zukunft
Welche Merkmale werden sich künftig zurückbilden?

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