Während sich nicht mehr gebrauchte Organe relativ schnell zu Rudimenten zurückbilden, hinken damit verknüpfte Verhaltensweisen deutlich hinterher. Dadurch haben wir auch nach Jahrmillionen noch Reflexe, die in unserer modernen Welt keinen erkennbaren Zweck mehr erfüllen, wie den Greifreflex oder die Gänsehaut.
Gesang ohne Stimme
Es gibt im Tierreich zahlreiche Beispiele für Verhaltensweisen, die im modernen Kontext keine Funktion mehr erfüllen, aber trotzdem fortbestehen. So hat zum Beispiel die Klapperschlangenart Crotalus catalinensis im Zuge regressiver Evolution ihr Klapperorgan verloren, schüttelt aber weiterhin den Schwanz, wenn sie sich bedroht fühlt. Manche Populationen der Ozeanischen Feldgrille (Teleogryllus oceanicus) haben die Fähigkeit zu zirpen verloren, indem sich ihre Flügel veränderten. Trotzdem bewegen sie diese weiterhin so, als könnten sie damit Gesang erzeugen.
Wieso halten sich derart unangepasste Verhaltensweisen so viel länger als ihr organisches Pendant? Wahrscheinlich haben es Lebewesen „eiliger“, nicht mehr benötigte Organe loszuwerden, weil es sie viel Energie kostet, diese zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Unangepasste Verhaltensweisen hingegen verursachen wenig bis gar keine energetischen Kosten und halten sich dadurch länger. Darüber hinaus unterscheiden sich Verhaltensweisen von Individuum zu Individuum deutlich stärker als die Gestalt von Organen. Ihre Ausprägung gänzlich zu unterdrücken, ist deshalb komplexer.
Greifreflex: Babys mit Superkräften
Auch Menschen tragen rudimentäre Verhaltensweisen in sich, meist in Form von heute nicht mehr benötigten Reflexen. Berührt man zum Beispiel die Handfläche eines Säuglings zwischen Ring- und Zeigefinger, schließt er automatisch die Hand. Dieser Greifreflex funktioniert bis zu vier Monate nach der Geburt. Er ist ein Relikt unserer Primatenvorfahren. Der Reflex sollte vermutlich sicherstellen, dass der Nachwuchs sich automatisch am Fell der Mutter festhält, wenn diese ihn trägt. Da menschlichen Müttern kein Fell mehr wächst, erübrigt sich auch der Greifreflex. Dennoch: Der Griff von menschlichen Neugeborenen ist immer noch so fest und stark, dass sie damit theoretisch ihr eigenes Gewicht halten könnten.
Gänsehaut: Vom Kälteschutz zum wohligen Schauer
Auch die Gänsehaut ist ein rudimentärer Reflex, der bei unserer heutigen Anatomie nicht mehr viel Nutzen hat. Gänsehaut entsteht, wenn sich die Muskeln der Haarfollikel zusammenziehen, woraufhin sich die Haare aufstellen. Wenn sich bei unseren Vorfahren das Fell auf diese Weise sträubte, hatte das zwei Vorteile: Erstens sammelte sich warme Luft unter den stehenden Haaren und half dadurch gegen Kälte. Zweitens ließ das aufgestellte Fell die Primaten größer erscheinen und schreckte so möglicherweise Raubtiere ab.
Noch heute bekommen wir eine Gänsehaut, wenn wir frieren oder uns fürchten, obwohl das bei unserer spärlichen Körperbehaarung längst nicht mehr dieselbe Wirkung hat wie einst beim dichten Fell unserer Vorfahren. Doch die Gänsehaut könnte auch in der Moderne wieder nützlich sein, allerdings auf eine andere Art. Sie kann nämlich auch durch starke emotionale Reaktionen wie das Hören schöner Musik ausgelöst werden. Dabei fahren uns dann die wortwörtlichen Schauer über die Haut. Das hat den Nutzen, dass unsere Mitmenschen anhand der aufgestellten Haare mehr über unser Innenleben erfahren können.