Die Kultur der Minoer hat nicht nur die rätselhafte Hieroglyphenschrift hervorgebracht, die Menschen im bronzezeitlichen Kreta entwickelten auch ein zweites, deutlich abstrakteres Schriftsystem: die Linearschrift A. Diese wurde zeitweise parallel zu den Hieroglyphen genutzt und gilt als die älteste echte Schrift Europas. Ihre meist in säuberlichen Linien angeordneten Zeichen finden sich ab 1900 vor Christus überall im Einflussgebiet der minoischen Kultur.
Geritzt, nicht gedrückt
Anders als die minoischen Hieroglyphen ist Linear A weniger piktografisch und ähnelt in ihren von Strichen und Kurven dominierten Zeichen eher den Vorformen des Alphabets oder den Keilschriften Mesopotamiens. Während letztere aber mit der Kante eines Stäbchens in feuchten Ton eingedrückt wurde, ritzten die minoischen Schreiber ihre Schrift in den Schreibuntergrund. „Diese linearen Zeichen finden sich auf Ton ebenso wie auf Stein“, berichtet der britische Archäologe Artur Evans im Jahr 1909.
Inschriften mit Linearschrift A wurden auf kleinen, offenbar zur Buchhaltung verwendeten Tontäfelchen gefunden, aber auch in Höhlenheiligtümern oder den großen Palästen von Phaistos und Knossos. In einem der Räume von Knossos stieß Evans zwischen zahlreichen Siegeln mit Hieroglyphen auf ein besonderes Beispiel dieser Schrift: „Zwischen ihnen lagen zwei Schalen, die auf ihrer Innenseite rundherum in Tinte mit diesen linearen Zeichen beschrieben waren“, berichtet er. „Diese Zeichen wurden offenbar vor dem Brennen der Tongefäße mit einer Rohrfeder geschrieben.“
Zeichen für Silben und Wörter
Inzwischen sind rund 1.362 Funde mit Linearschrift A bekannt. Die meisten von ihnen stammen aus Kreta, aber auch auf einigen Inseln der Ägäis, auf dem griechischen Festland, in der Levante und an der Westküste der Türkei wurden vereinzelt Linear-A-Inschriften entdeckt. Je nach Region weisen diese Funde teilweise deutliche Eigenheiten und Variationen auf. „Es gibt daher guten Grund zu der Annahme, dass es damals provinzielle oder koloniale Formen der Schrift gab, die wir heute noch nicht kennen“, schrieb Evans. „Dabei könnten lokale Schreiber bestimmte Zeichen primitiver Vorformen anderen vorgezogen und so ihr Überdauern gefördert haben.“
Die dokumentierten Zeichen gliedern sich in rund 70 Silbenzeichen und rund 100 Zeichen, die wahrscheinlich für ganze Wörter stehen, sowie Verbindungsmarker. Das zumindest schließen Linguisten aus der Zahl und Verteilung der Zeichen. Einige dieser Schriftzeichen gelten dabei als Kernbestandteil der Linearschrift A: Diese Zeichen sind aus allen Linear-A-Funden bekannt und wurden in verschiedenen Fundstätten auf Kreta und den ägäischen Inseln gefunden.
„Im Moment wissen wir aber noch nicht, wie viele Zeichen tatsächlich als Kernzeichen gewertet werden können“, erklärt die Archäologin Ester Salgella von der University of Cambridge. Sie geht von rund 80 solchen Basissymbolen aus. Zusätzlich existieren ortsspezifische Zeichen, die jeweils spezifisch für nur einen Fundort zu sein scheinen.
Dezimalsystem mit Brüchen
Außerdem gibt es in der minoischen Schrift noch Gruppen von Strichen und Kreisen, die als Zahlenzeichen gewertet werden. Auf Grundlage dieser Zeichen und ihrer Anordnung gehen Archäologen davon aus, dass die Minoer zum Rechnen ein Dezimalsystem nutzten. Dabei scheinen Zehnerwerte mit waagerechten Strichen oder Punkten gekennzeichnet zu sein, Hunderter mit Kreisen und Tausender mit von Strichen umgebenen Kreisen.
Im Jahr 2020 hat ein Team um Michele Corazza von der Universität Bologna zudem herausgefunden, wie die Minoer Dezimalbrüche zum Rechnen und für Mengenangaben verwendeten. „Linear A umfasst 17 Zeichen, die für Bruchzahlen zu stehen scheinen“, erklären sie. Die Bruchzahlen bestehen aus dreieckigen oder halbkreisförmigen Grundzeichen, die durch einen oder mehrere Punkte ergänzt sind. Lange war jedoch unklar, welches System hinter den Bruchsymbolen steckt. Erst eine computergestützte Auswertung enthüllte das Grundprinzip dieser Notation.
Doch abseits des Zahlensystems bleibt die Linearschrift A bis heute ein Rätsel. Was aber macht ihre Entzifferung so schwierig?