Als der Archäologe Arthur Evans vor gut hundert Jahren die auf Kreta entdeckten Schriftzeichen und Symbole katalogisierte, fiel ihm bei den Linearschriften etwas auf: Neben den meist kurzen Zeichenfolgen der Linear A gab es – vor allem im Palast von Knossos – offenbar noch ein zweites System linearer Zeichen.
„Zu dieser Klasse gehört die Mehrheit der Tontafeln, die in den Räumen und Vorratslagern der Gebäude entdeckt wurden“, berichtet Evans im Jahr 1909. „Sie repräsentieren eine Form der Schrift, die zur Zeit des katastrophalen Niedergangs dieser Kultur verwendet wurde, um das 15. oder frühe 14. vorchristliche Jahrhundert herum.“ Ähnlich wie bei Linear A scheint es sich um eine Kombination von Silben- und Wortzeichen zu handeln. Auch einige Zeichen stimmen mit denen der Linearschrift A überein.
Mykener statt Minoer?
Allerdings gibt es auch viele abweichende Zeichen und ihre Abfolge erscheint fundamental verschieden. Generell erscheint die Linear B weiter entwickelt: Die Zeichen sind einfacher, einheitlicher und wirken in ihrer Form und Anordnung „europäischer“, wie Evans es ausdrückte. Auf den ersten Blick scheint es daher naheliegend, dass die Linear B eine Weiterentwicklung der älteren Linear A darstellt. Doch der Archäologe hat daran seine Zweifel: Zwar wurden beide Linearschriften offensichtlich im minoischen Kreta verwendet, dennoch vermutet er hinter Linear B mehr als nur einen simplen Abkömmling von Linear A.
Dies sollte sich bestätigen: Wie sich zeigt, kommt Linear B keineswegs nur auf Kreta vor, sondern sogar noch häufiger in den Zentren der mykenischen Kultur – dem auf dem griechischen Festland entstandenen Reich, das die Ära der Minoer im östlichen Mittelmeerraum ablöste. In Mykene, Sparta und der mykenischen Königsstadt Tyrins haben Archäologen zahlreiche Tontafeln und andere Objekte mit Linearschrift B entdeckt. Einige dieser Inschriften entstanden sogar vor den ältesten Linear-B-Funden aus Kreta.
Alice Kobers Tripletts
Doch auch bei Linear B bleibt zunächst unklar, zu welcher Sprache diese Zeichen gehören und was sie bedeuten. Das ändert sich erst in den 1930er Jahren, als sich die US-amerikanische Historikerin Alice Kober der Linear B annimmt. Fasziniert von dieser frühen Schrift und ihrer rätselhaften Geschichte, beginnt sie in ihrer Freizeit, die Zeichenfolgen systematisch auf kleinen Kärtchen zu katalogisieren. Sie entwickelt dabei ein Verfahren, durch das sie nachvollziehen kann, welche Symbole in welchen Zusammenhängen auftauchen und wie.
Dabei macht Kober eine entscheidende Entdeckung: Einige Zeichen bilden Gruppen, bei denen die ersten beiden Symbole gleich bleiben, das dritte aber verändert oder ausgetauscht ist. Auf Basis ihres linguistischen Vorwissens vermutet Kober, dass es sich dabei um Wörter handelt, deren Ende grammatikalisch gebeugt wurde – je nachdem, ob das Bezugswort weiblich, männlich oder eine Mehrzahlform ist. Damit verraten diese „Kober-Tripletts“, dass Linear B in einer Sprache mit flektierender Grammatik geschrieben sein muss.
Aber welcher? Zu solchen Flexionssprachen gehören die große Gruppe der indoeuropäischen Sprachen, aber auch einige semitische Sprachen. Noch bevor Kober die Frage der Sprache klären kann, stirbt sie mit erst 43 Jahren. Sie hinterlässt mehr als 40 Notizbücher und ihren Katalog aus 200.000 Kärtchen mit Zeichenfolgen in Linear B.
Michael Ventris: Über Ortsnamen zur Entschlüsselung
Kobers Erkenntnisse und ihr Nachlass bilden die Basis für den entscheidenden Durchbruch bei der Entzifferung von Linear B. Dieser gelingt dem jungen britischen Architekten Michael Ventris. Seitdem der sprachbegabte Junge mit 14 Jahren einen Vortrag von Arthus Evans gehört hat, ist er vom Rätsel der minoischen Sprache und Schrift fasziniert. Als junger Mann beginnt er – ebenfalls in seiner Freizeit – sich mit den Zeichenlisten von Alice Kober zu beschäftigen.
Ventris vergleicht die Linear-B-Zeichenfolgen vom griechischen Festland mit den auf Kreta gefundenen Inschriften. Dabei fällt ihm auf, dass bestimmte Symbol-Kombinationen ortspezifisch zu sein scheinen, einige tauchen nur auf kretischen Tafeln auf, andere nur an anderen Fundstätten. Ventris vermutet, dass es sich dabei um Ortsnamen handeln könnte – aber welche?
Durch langwierige Vergleiche, für die er auch Schriftzeichen aus dem benachbarten Zypern hinzuzieht, gelingt es Ventris schließlich, die ersten Orte zuzuordnen: Er identifiziert die Zeichenkombination für Knossos – Ko-no-so – und die flektierten Varianten für männliche und weibliche Bewohner – Ko-no-si-ja und Ko-no-si-jo. Ähnliches gelingt Ventris für andere Ortsnamen. Dadurch kennt er nun die Silbenlaute für die ersten Linear-B-Zeichen – und kann nun nach und nach weitere Zeichenfolgen entschlüsseln. Er entziffert die Zeichen, die für bestimmte Güter wie Wein, Oliven oder Getreide stehen und kann so nach und nach sogar ganze Sätze transkribieren.
Es ist griechisch!
Zu seiner großen Überraschung stellt Ventris fest, dass die transkribierten Linear-B-Passagen keineswegs in einer ihm unbekannten Sprache geschrieben sind: „Obwohl es allem widerspricht, was ich in der Vergangenheit gesagt haben, bis ich nun fast vollständig davon überzeugt, dass die Linear-B-Tafeln in Griechisch geschrieben sind“, schreibt er an einen Kollegen.
Nachdem Evans, Ventris und alle anderen Forscher jahrzehntelang davon überzeugt waren, dass Linear B ebenso wie Linear A auf minoisch verfasst sein musste, erweist sich dies nun als Fehlschluss. „Es ist ein schwieriges und archaisches Griechisch, angesichts der Tatsache, dass diese Tafeln 500 Jahre älter sind als Homer“, erklärt Ventris 1952 in einem BBC-Interview. „Sie sind auch in einer ziemlich verkürzten Form geschrieben, dennoch ist es eindeutig Griechisch.“
Inzwischen gehen Archäologen davon aus, dass die Linearschrift B von den Mykenern auf Basis der älteren, minoischen Linear A entwickelt worden ist. Sie nutzten die Zeichen der Minoer, aber notierten damit ihre eigene, frühgriechische Sprache. Als die Macht der Mykener im östlichen Mittelmeerraum zunahm und das Reich der Minoer endete, begannen auch die Menschen auf Kreta, diese Praxis zu übernehmen. Sie behielten ihre gewohnten Zeichen, verwendeten sie nun aber auf andere Weise.
Was aber bedeutet dies für die noch unentzifferte Linearschrift A?