Auf den ersten Blick erscheint es seltsam, dass die minoische Linearschrift A noch immer nicht entschlüsselt ist. Schließlich hat man inzwischen die scheinbar ganz ähnliche Linearschrift B entziffert und kennt ihre Zeichen und ihre Sprache. Und man weiß, dass zumindest einige Zeichen in beiden Schriften auftauchen.
Phonetisch lesbar, aber unsinnig
Tatsächlich hat der Vergleich beider Schriftsysteme es ermöglicht, einige Begriffe des Linear A zu identifizieren. „Es gibt einige Zeichenfolgen, die in Linear A und B gleich sind, meist handelt es sich dabei um Orts- oder Personennamen“, erklärt Esther Salgella von der University of Cambridge. „Es spricht zudem einiges dafür, dass die übereinstimmenden Zeichen auch gleich oder zumindest ähnlich ausgesprochen wurden.“ Auch von einigen in den Tontäfelchen von Knossos gelisteten Gütern kennt man die phonetische Transkription.
Das Problem jedoch: „Wir können die Linear-A-Inschriften aussprechen, aber das, was dabei herauskommt, klingt wie kompletter Unsinn“, erklärt der Linguist und Archäologe Brent Davis von der University of Melbourne. Zudem zeigen die Vergleiche, dass Linear A sich grammatikalisch in Vielem vom Griechischen der Linearschrift B unterscheidet – unter anderem im Satzbau, wie Davis herausgefunden hat. Denn anders als im Altgriechischen oder Sumerischen nutzten die Minoer in ihrer Sprache nicht die Reihenfolge Subjekt -Objekt – Verb, sondern wahrscheinlich eher den Satzbau Verb-Subjekt-Objekt wie im Altägyptischen.
Ohne neue Funde wird es schwer
Und noch etwas erschwert die Entzifferung der minoischen Linear A: Die Linear-A-Funde sind spärlich und linguistisch sehr unergiebig. Meist handelt es sich um extrem kurze, nur aus wenigen Zeichen bestehende, grammatikalisch stark verkürzte Bestandslisten. „Es gibt keine Funde von erzählenden Texten, diplomatischer Korrespondenz, monumentalen Inschriften oder privaten Briefen“, erklärt Salgella. Das macht es fast unmöglich, näheren Aufschluss über die Sprache von Linear A zu gewinnen oder sie durch kryptografische Methoden zu entschlüsseln
„Mathematiker sagen uns, dass wir 10.000 bis 12.000 verschiedene Textbeispiele benötigen, um Linear A mit solchen Methoden zu knacken“, sagt Davis. Aber bisher wurden nur gut 7.000 Inschriften in Linear A gefunden. „Das sind etwa drei bis vier DINA-4-Blätter voll“, so der Forscher. Hier sei daher die Archäologie gefragt. „Der Satzbau ist schon mal ein Anfang, aber wenn wir die Sprache knacken wollen, brauchen wir einfach mehr Material.“
Wo bleibt der Rosetta-Stein der Minoer?
Noch besser wäre es allerdings, wenn Archäologen einen „Rosetta-Stein“ der Minoer finden würden – eine längere Inschrift, die den gleichen Inhalt einmal in Linear A und einmal in Linear B enthält. Ähnlich wie bei der Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen könnte dies die entscheidenden Hinweise auf die Sprache der Minoer liefern und die Entschlüsselung der rätselhaften Linearschrift A ermöglichen.
„Aber man sollte niemals nie sagen: Es kann gut sein, dass archäologische Feldarbeiten eines Tages ein solches unschätzbar wertvolles Objekt zutage fördern“, sagt Salgella. „Bis dahin sind wir auf unsere Kreativität angewiesen und auf innovative Methoden und Ansätze, um die mageren Funde auszuwerten.“ Salgella und ihr Team sind zurzeit dabei, ein digitales Kompendium aller Zeichen in Linear A zusammenzustellen. Dies soll computergestützte Analysen der Schrift ermöglichen. Vielleicht, so die Hoffnung, gelingt dadurch der entscheidende Durchbruch und das Rätsel der Minoer-Sprache und Schrift wird endlich gelöst.