Verblüffende Parallelen: Kleine RNA-Schnipsel könnten eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung großer Gehirne spielen – bei uns Wirbeltieren und bei den wirbellosen Tintenfischen. Denn wie eine Studie enthüllt, sind im Nervengewebe und Gehirn von Oktopussen mehr microRNAs aktiv als bei jedem anderen wirbellosen Tier. Ihr Repertoire dieser Regulatoren für die Proteinproduktion ist sogar das drittgrößte im gesamten Tierreich. Das könnte die ungewöhnlich hohe Intelligenz dieser Kopffüßer erklären.
Tintenfische sind einzigartig: Ihre Genomstruktur unterscheidet sich von der aller anderen Tiergruppen, zudem hat kein anderes wirbelloses Tier ein so komplexes Nervensystem und eine so hohe Intelligenz entwickelt. Oktopus, Kalmar und Co sind enorm lernfähig, gedächtnisstark und innovativ. Sie können zählen und nutzen Werkzeuge. Die Tintenfische besitzen zudem mehr Neuronen im Gehirn als eine Ratte und ähnlich viele neuronale Verknüpfungen wie ein Hund.
MicroRNAs im Visier
Doch warum Tintenfische ein so großes, komplexes Gehirn entwickelt haben und wie, ist erst in Teilen geklärt. Forschende um Grygoriy Zolotarov vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin haben daher einen ganz speziellen Aspekt in der Zellbiologie der Kranken untersucht: die microRNA. Diese kleinen Stücke Ribonukleinsäure enthalten keine proteinkodierenden Gene wie die Boten-RNA. Sie können aber an diese mRNA andocken und so regulieren, in welchem Maße deren Code in Proteine umgesetzt wird.
Für ihre Studie analysierten Zolotarov und seine Kollegen die miRNA-Aktivität in 18 verschiedenen Geweben des Gewöhnlichen Kraken (Octopus vulgaris) und des Kalifornischen Zweipunkt-Kraken (Octopus bimaculoides). Dabei zeigte sich Ungewöhnliches: In den Geweben der Oktopusse waren mit mehr als 138 microRNA-Familien auffällig viele dieser RNA-Schnipsel aktiv. 90 dieser microRNA-Familien waren zudem zuvor noch nirgendwo anders dokumentiert worden.
Explosive Erweiterung des miRNA-Repertoires
Im nächsten Schritt verglichen die Forschenden das microRNA-Repertoire der Oktopusse mit dem des Zwergtintenfischs Euprymna scolopes und des primitiven, wenig intelligenten Kopffüßers Nautilus. Das Ergebnis: „Von den 90 neuen microRNA-Familien fanden sich zwölf auch bei Nautilus und dem Zwergtintenfisch – sie repräsentieren daher die Grundausstattung der Cephalopoden“, berichten die Wissenschaftler. 43 microRNA-Familien waren dagegen nur bei den Oktopussen und dem Zwergtintenfisch vertreten, 35 weitere nur bei den Oktopussen.
Demnach hat sich im Laufe der Entwicklung von einfachen Kopffüßern wie Nautilus zu den intelligenten, großhirnigen Tintenfischen die Zahl der microRNAs drastisch erhöht. „Dies ist die drittgrößte Erweiterung von microRNA-Familien im Tierreich und die größte jenseits der Wirbeltiere“, sagt Zolotarov. Kein anders wirbelloses Tier weist eine so große Zahl an microRNAs auf. Mit insgesamt 138 microRNA-Familien besitzen die Tintenfische sogar mehr als beispielsweise die zu den Wirbeltieren gehörenden Hühner.
Aktiv vor allem in Gehirn und Nervengewebe
Das wirft die Frage auf, ob diese auffällige Erweiterung des microRNA-Repertoires mit den großen Gehirnen und der ungewöhnlich hohen Intelligenz der Oktopusse zusammenhängt. Um das zu klären, untersuchten Zolotarov und seine Kollegen, wo die microRNAs der Tintenfische aktiv sind. Es zeigte sich: „Von den 43 microRNAs, die nur bei den Oktopussen vorkommen, waren 34 in einem oder mehreren neuronalen Geweben aktiv“, berichten sie. „In diesen Geweben wurden sie im Schnitt 13-mal stärker exprimiert als in nicht-neuronalen Geweben.“
Demnach spielen die microRNAs für die Entwicklung von Gehirn und Nervengewebe wahrscheinlich eine entscheidende Rolle. „Die bemerkenswerte Explosion des microRNA-Repertoires in Tintenfischen könnte darauf hindeuten, dass microRNAs und ihre spezialisierten neuronalen Funktionen eng mit der Entwicklung komplexer Gehirne in Tieren verknüpft sind – wahrscheinlich sind sie dafür sogar notwendig“, konstatieren die Forscher. (Science Advances, 2022; doi: 10.1126/sciadv.add9938)
Quelle: Science Advances, Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft