Neurologie

Nerven wie Gummibänder

Wüstenheuschrecken entwickeln zur Eiablage verblüffend dehnbare Nervenfasern

Wüstenheuschrecke
Weibliche Heuschrecken sind Meister der Dehnung. © wrangel/ Getty Images

Einzigartig dehnbar: Heuschreckenweibchen können ihren Hinterleib beim Eierlegen auf die zwei- bis dreifache Länge ausdehnen – ohne dass dabei die empfindlichen Nervenfasern Schaden nehmen. Jetzt enthüllt eine Studie, dass diese Insekten dafür ein einzigartiges Patent der Natur nutzen: Anders als bei uns Menschen sind die Nervenfasern der Heuschreckenweibchen extrem dehnbar und elastisch – ähnlich einem Gummiband. Der dahinterstehende Mechanismus könnte auch der Medizin neue Anstöße geben.

Unser Nervensystem ist sehr feinfühlig und hoch entwickelt, aber wenig elastisch. Dehnen wir unsere Nervenfasern um mehr als 30 Prozent – das ist schon bei einem ungünstigen Sturz möglich – dann können sie reißen oder dauerhaft geschädigt werden. Die Folge sind Kribbeln, Taubheit oder im schlimmsten Fall Lähmungen.

Auf der Suche nach Möglichkeiten, solche Nervenverletzungen zu vermeiden oder zu behandeln, kann ein Blick ins Tierreich hilfreich sein. So haben Forschende etwa bereits herausgefunden, dass Blauwale in ihrem Kehlsack extrem dehnbare Nerven besitzen. Öffnen sie das Maul, um große Mengen an Krill-Krebsen zu erbeuten, dehnen sich die Nerven wie ein Akkordeon – ohne bleibende Schäden für den Wal.

Eiablageeee
Ein Heuschreckenweibchen bei der Eiablage. © Das et al./ iScience/CC-by-nc-nd 4.0

Eiablage extrem

Wie es mit der Dehnbarkeit der Nerven bei einem weit kleineren Tier aussieht, haben nun Forschende um Rakesh Das von der Universität von Tel Aviv untersucht. Im Visier stand dabei
die weibliche Wüstenheuschrecke (Schistocerca gregaria). Wenn sie bereit ist, ihre Eier abzulegen, gräbt sie sich mit dem Hinterleib tief in den Boden und streckt dabei ihr Abdomen samt Nerven um das Zwei- bis Dreifache: von ursprünglich vier bis fünf Zentimetern Länge auf zehn bis fünfzehn Zentimeter.

Seltsamerweise führt dies bei der Heuschrecke zu keinerlei irreparablen Schäden, so wie es beim Menschen der Fall wäre. Hat das Weibchen seine Eier abgelegt, macht es diese extreme Dehnung zudem problemlos wieder rückgängig. „Eine ähnliche Fähigkeit ist uns bei kaum einem anderen Lebewesen bekannt“, erklären Das und seine Kollegen.

Er und sein Team haben daher untersucht, wie genau dem Heuschreckenweibchen diese extreme Körperverlängerung gelingt. Dafür präparierten sie das abdominale Nervensystem von geschlechtsreifen und unreifen Weibchen sowie das von Männchen. Die Wissenschaftler untersuchten die Mikrostruktur der Nerven mit hochauflösenden Mikroskopen und testeten mit sensiblen Messinstrumenten, wie weit sich die Nerven dehnen lassen, bevor sie reißen.

Gummiband statt Akkordeon

Das Ergebnis: „Wir fanden heraus, dass nur bei den geschlechtsreifen Weibchen eine vollständig reversible Hyperdehnbarkeit der Nerven möglich ist, während die Dehnungsfähigkeit bei unreifen Weibchen und der Männchen viel geringer ist.“ Die Wissenschaftler vermuten daher, dass die Dehnbarkeit mit der Aktivität spezieller Hormone zusammenhängen könnte, die im Zuge der weiblichen Geschlechtsreife freigesetzt werden.

Doch wie genau funktioniert die Nervendehnung an sich? Rakesh Das und seine Kollegen hatten eigentlich erwartet, einen Mechanismus zu entdecken, der auf die räumliche Faltung von Nervenfasern setzt. Demnach wären die Nervenfasern im Normalzustand wellenförmig gefaltet und würden sich erst bei der Eiablage voll ausdehnen, ähnlich wie ein Akkordeon.

Doch zur großen Überraschung der Wissenschaftler war das nicht der Fall, denn sie konnten nur leicht gewellte Fasern beobachten. „Dieser Befund ist aus biomechanischer und morphologischer Sicht nahezu unbegreiflich“, sagt Koautorin Bat-El Pinchasik. Anstelle der Akkordeon-Hypothese vermutet das Team daher, „dass diese Dehnbarkeit auf die natürliche Elastizität des Gewebes zurückzuführen ist, auf einen rein elastischen Mechanismus, ähnlich dem eines Gummibandes.“ Was genau dem Nervengewebe diese Eigenschaften verleiht, ist noch nicht bekannt.

Nutzen für Medizin und Materialtechnik

Sobald das Rätsel um die Dehnbarkeit allerdings gelöst ist, könnte dieses Wissen vielseitig genutzt werden, wie Das und seine Kollegen erklären: „In Zukunft könnten diese Erkenntnisse zu neuen Entwicklungen im Bereich der regenerativen Medizin beitragen, als Grundlage für die Wiederherstellung von Nerven und die Entwicklung von synthetischen Geweben.“ (iScience, 2022; doi: 10.1016/j.isci.2022.105295

Quelle: Tel Aviv University

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