Physik

Geheimnis des Quecksilbers gelüftet

Physiker klären rätselhafte Anomalien beim "Urvater" aller Supraleiter

Quecksilber
Das Schwermetall Quecksilber war das erste Material, bei dem eine Supraleitung beobachtet wurde. © ados/ Getty images

Elementarer Exot: Vor 111 Jahren war Quecksilber das erste Material, bei dem die Supraleitung nachgewiesen wurde. Doch warum dieses Metall beim Abkühlen plötzlich Elektronen reibungsfrei leiten kann, blieb bis heute ungeklärt. Jetzt haben Physiker das Geheimnis des supraleitenden Quecksilbers gelüftet. Demnach ist das Schwermetall zwar ein konventioneller Supraleiter, aber relativistische Effekte bewirken ein anomales Verhalten seiner Elektronen und der Schwingungen im Atomgitter.

Quecksilber
Quecksilber hat einen ungewöhnlich neutronenreichen und daher schweren Atomkern – das macht es zum Sonderling. © jcrosemann/ iStock

Quecksilber ist ein echter Sonderling: Es ist das einzige Metall, das bei Raumtemperatur flüssig ist. Ursache dafür sind die besonders schweren, neutronenreichen Atomkerne dieses Elements. Sie verleihen dem silbrigen Schwermetall selbst im flüssigem Zustand eine so hohe Dichte, dass sogar ein Eisenstück in Quecksilber schwimmt. Zusätzlich kreisen die 80 Elektronen des Quecksilbers mit so hoher Geschwindigkeit um den schweren Kern, dass es zu relativistischen Effekten kommt. Diese verhindern das Auskristallisieren des Metalls und halten es länger als normal flüssig.

Wie Quecksilber zum ersten Supraleiter wurde

Dieser Exot unter den Metallen war vor 111 Jahren das erste Material, bei dem der Physiker Heike Kamerlingh Onnes eine Supraleitung nachgewiesen hat: Als er im Jahr 1911 Quecksilber mithilfe von flüssigem Helium herunterkühlte, stellte er Überraschendes fest: Unterhalb von 4,15 Kelvin verlor das normalerweise nur schlecht leitende Schwermetall plötzlich jeden elektrischen Widerstand. Er hatte den ersten Supraleiter entdeckt. Doch warum Quecksilber und andere Metalle supraleitend werden können, blieb lange ungeklärt.

Erst fast 50 Jahre später fanden John Bardeen, Leon Neil Cooper und John Robert Schrieffer eine theoretische Erklärung für die klassische Supraleitung bei Metallen. Gemäß dieser BCS-Theorie geben die Elektronen des Metalls beim Abkühlen Energie ab, die zu speziellen Gitterschwingungen, sogenannten Phononen, führt. Dies wiederum ermöglicht die Bildung von Cooper-Paaren – Elektronen-Paaren mit gleichem Spin, die sich dank quantenmechanischer Mechanismen verlustfrei im Metall bewegen können.

Schwermetall passt nicht zur Theorie

Das Problem nur: Ausgerechnet für Quecksilber, den „Urvater“ aller Supraleiter, schien dieses klassische Modell nicht zu passen. Zwar spricht alles dafür, dass Quecksilber zu den konventionellen Supraleitern gehört und Cooper-Paare ausbildet. Doch wenn man versucht, sein Verhalten und seine Sprungtemperatur in physikalischen Modellen zu rekonstruieren, weichen die Ergebnisse deutlich von den Beobachtungen ab.

„Obwohl Quecksilber der älteste bekannte Supraleiter ist, fehlt dieses Metall deshalb in allen aktuellen Supraleiter-Datenbanken“, berichten Cesare Tresca von der Universität von Aquila in Italien und seine Kollegen. Sie haben nun noch einmal systematisch alle für die Supraleitung relevanten Eigenschaften des Quecksilbers mithilfe neuester quantenmechanischer Dichtefunktionaltheorien analysiert. Diese beschreiben die Zustände eines Systems aus vielen Teilchen in Abhängigkeit von der Elektronendichte und -verteilung.

Relativistische Effekte auch bei der Supraleitung

Die Analysen enthüllten: Die relativistischen Effekte der schweren Quecksilber-Atomkerne sorgen auch in der Supraleitung für mehrere Anomalien. „Alle physikalischen Eigenschaften, die für die konventionelle Supraleitung relevant sind, darunter die Elektronenstruktur, die Phonon-Ausbreitung, die Elektron-Phonon-Kopplung und die Coulomb-Matrix, sind beim Quecksilber in mindestens einer Hinsicht anomal“, berichten Tresca und seine Kollegen.

So verändern die relativistischen Effekte der Atomkerne die Frequenz der Gitterschwingungen, die durch die Energieabgabe der Elektronen entstehen. Die dicht an den Kern gezogenen und vollständig gefüllten d-Orbitale des Quecksilbers verursachen zudem einen abschirmenden Effekt. Dieser verringert die Abstoßung zwischen den Elektronen und fördert so die Supraleitung. Auch die Cooper-Paare verhalten sich beim Quecksilber in Teilen anders als es die klassischen Modelle vorsehen.

Endlich Übereinstimmung

Nachdem die Physiker diese Effekte in einem neuen Modell berücksichtigt hatten, gelang es ihnen erstmals, das supraleitende Verhalten des Quecksilbers mit weniger als 2,5 Prozent Abweichung zu modellieren. Damit klären sie nicht nur die seit 111 Jahren diskutierte Frage, wie und warum Quecksilber supraleitend ist, ihre Erkenntnisse könnten auch für die Erforschung neuer Supraleiter wichtig sein.

„Unsere Resultate demonstrieren, dass man selbst bei einem vermeintlich simplen Material wie Quecksilber nicht einfach blind die allgemeinen Annahmen übernehmen kann“, betonen Tresca und sein Team. „Wenn wir subtile Effekte wie die jetzt identifizierten Anomalien nicht berücksichtigen, könnten wir viele interessante Materialien übersehen oder ihre kritischen Sprungtemperatur völlig falsch einschätzen.“ (Physical Review B, 2022; doi: 10.1103/PhysRevB.106.L180501)

Quelle: American Physical Society (APS)

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