Klein und unabhängig: Der Europasaurus war eine Zwergversion des langhalsigen Brachiosaurus und lebte vor 154 Millionen Jahren auf einer Insel im heutigen Norddeutschland. Sein Nachwuchs kam aber ähnlich weitentwickelt auf die Welt wie der seiner großen Verwandten vom Festland, wie Schädel-Scans nun offenbaren. Demnach war der Gleichgewichtssinn auch schon bei frisch geschlüpften Europasauriern voll entwickelt, was sie wahrscheinlich als Nestflüchter unabhängig von elterlicher Fürsorge machte.
Die langhalsigen Sauropoden waren zwar die größten Landtiere aller Zeiten, doch nicht alle Arten dieser vierbeinigen Pflanzenfresser trugen den Kopf in Baumkronenhöhe. Es gab auch Zwergarten wie den Europasaurus, der vor etwa 154 Millionen Jahren auf einer kleinen Insel im heutigen Norddeutschland lebte. Abgetrennt vom Festland entwickelten sich seine einst riesigen Vorfahren zu gerade einmal drei Meter hohen, sechs Meter langen und 800 Kilogramm schweren Inselzwergen. Zum Vergleich: Der verwandte Giraffatitan – früher Brachiosaurus brancai – wurde 13 Meter hoch und 38 Tonnen schwer.
Schädel-Scans von Jung bis Alt
Um mehr über das Leben der bisher wenig erforschten Zwerg-Sauropoden herauszufinden, untersuchten Forschende um Marco Schade von der Universität Greifswald fossile Schädelreste von verschiedenen Europasauriern. Die Fossilien wurden bei Goslar in Niedersachsen gefunden und gehören zu acht Individuen unterschiedlichen Alters, darunter sehr junge, vielleicht frisch geschlüpfte Tiere ebenso wie erwachsene.
Mithilfe eines hochauflösenden Computertomografen rekonstruierten die Wissenschaftler die Hohlräume im Schädel, die einst das Gehirn und die Innenohren der Europasaurier beherbergten. Durch die Analyse des Innenohres erwarteten sich Schade und sein Team Erkenntnisse zu Hörvermögen und Gleichgewichtssinn der Urzeit-Giganten im Miniformat.
Gute Ohren und Balance schon in frühen Jahren
Das Ergebnis: Die Schädel-Scans offenbaren, dass bei Europasauriern der Teil des Innenohres, der für das Hören verantwortlich ist, die Cochlea, relativ lang war. Das deutet laut Forschenden daraufhin, dass die Tiere gut hören konnten und dabei einen breiten Frequenzbereich abdeckten. Womöglich war das wichtig für die Kommunikation mit Artgenossen, was die Idee unterstützt, dass Sauropoden in Herden lebten, wie Schade und seine Kollegen erklären.
Neben der Rekonstruktion der Cochlea gelang es den Forschenden ebenfalls, das Gleichgewichtsorgan der Tiere, bestehend aus drei kleinen Bogengängen, abzubilden. Dabei stellten sie fest, dass es zwischen den verschiedenen Altersgruppen kaum Unterschiede in Form und Größe gab. „Das zeigt, dass bereits sehr junge Individuen von Europasaurus stark auf ihren Gleichgewichtssinn angewiesen waren. Das legt nahe, dass der Europasaurus vermutlich ein sogenannter Nestflüchter war“, erklärt Schades Kollege Sebastian Stumpf.
Stärkerer Familienzusammenhalt auf der Insel?
Die Jungtiere des norddeutschen Zwerg-Dinosauriers waren demnach schon beim Schlüpfen hoch entwickelt und weitestgehend selbstständig, was sie vermutlich unabhängig von elterlicher Fürsorge machte. Bei den gigantischen Festland-Verwandten des Europasaurus ist eine solche Anpassung bereits bekannt und hängt mit dem enormen Größenunterschied zwischen Elterntier und Nachwuchs zusammen. Für die frischgeschlüpften Jungen wäre es sehr gefährlich gewesen, sich von Anfang an in der Nähe erwachsener Tiere aufzuhalten, weil diese sie womöglich versehentlich totgetrampelt hätten.
Erwachsene Europasaurier waren aufgrund des moderateren Größenunterschieds wahrscheinlich nicht ganz so gefährlich für ihre Jungen. Trotzdem war der Nachwuchs dieser Dinosaurier anatomisch betrachtet bestens für das Leben als Nestflüchter gerüstet. Warum? Schade und seine Kollegen vermuten, dass die Europasaurier dieses Merkmal von ihren Sauropodenvorfahren vom Festland übernommen haben.
Doch obwohl die Europasaurus-Babys theoretisch für sich selbst sorgen konnten, halten es die Wissenschaftler nicht für ausgeschlossen, dass sie trotzdem mit der Herde mitliefen und sich nicht separierten. Letzteres wird für die großen Sauropoden-Arten vermutet. (eLife, 2022; doi: 10.7554/eLife.82190)
Quelle: Universität Wien, Universität Greifswald, eLife